Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
»Schnapsschuppen.«
»In der alten Scheune?!«, fragte Paul entgeistert. »Wie ist er da reingekommen?«
»Vollgummireifen«, antwortete Nullkück, das war alles, er war sehr mit seinen Frauen beschäftigt.
Paul lief in die Küche und setzte das Fernglas an, das er aus Nullkücks Zimmer mitgenommen hatte: Der unbekannte Mann sah sich immer noch um. Er trug Jeans, eine blaue Windjacke, Turnschuhe und eine Brille mit runden Gläsern. Sein Bart, der etwas verwegen für sein Alter wirkte, und die grauweißen Haare, die sich zu stattlichen Locken kräuselten, glänzten in der Morgensonne, die ausnahmsweise einmal schien. Er blieb vor dem alten Schlafzimmer der Eltern stehen und sah lange, wie versunken, auf die alte Scheune. War sie überhaupt abgeschlossen, fragte sich Paul und überlegte, wie er ungesehen dort hinüberkam.
In der Scheune war er bestimmt schon 25 Jahre nicht mehr gewesen, eigentlich nie. Als er zehn war, hätte er sie betreten können, denn nach dem Tod seines Großvaters kamen keine Formen mehr in die Scheune, die sich in Menschen verwandelten durch einen Vorgang, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Nur ein einziges Mal war Paul durch die Scheunentür getreten: Kurz bevor er mit seiner Mutter nach Lanzarote ging, wollte sie eine Kiste in der Scheune verschwinden lassen, Sachen von seinem Vater, die er wohl vergessen hatte mitzunehmen zur neuen Geliebten nach Amerika. Seine Mutter warf die Kiste hinein, beförderte sie mit ein paar Tritten tief in die Scheune und schlug die Tür wieder zu.
»Was ist da drin?«, fragte Paul.
»Ein Scheißkerl«, sagte seine Mutter und nahm ihn in die Arme.
Der Schlüssel steckte. Die alte Holztür war nur angelehnt und knarrte, als Paul sie aufdrückte. Neben den alten Landwirtschaftsgeräten, die dastanden wie staubige, verwitterte und von Spinnweben überzogene Gespenster, lagen moosbewachsene Kisten mit verrosteten Eisenschlössern, daneben Obstkörbe, aus Holz geflochten, vor Feuchte dahinmodernd.
Paul wurde es unheimlich, so wie es ihm immer in der Marcusheide ergangen war, wo er im Dämmerlicht an jeder Birke tote Künstler hängen sah, die ihm zuzuflüstern schienen. Er drehte sich um, und da stand er - der Bauernführer, wie Nullkück gesagt hatte, neben der alten Dreschmaschine.
Er lief schnell zum Ausgang, zog die Holztür wieder zu und drehte den großen rostigen Schlüssel um. Dann steckte er ihn ein, so wie ihn sein Großvater eingesteckt hatte. Der Schlüssel lag jetzt in der Hosentasche zusammen mit jenem Armreif, den Nullkück im Garten gefunden hatte. Paul spürte, wie sich die Metallstücke aneinanderrieben. Er versuchte ruhig zu atmen und marschierte auf den fremden Mann zu.
»Guten Tag«, sagte Paul.
Der Mann machte einen Rückwärtsschritt, er schien bei der Begrüßung fast in einen der Gräben zu fallen.
»Alles in Ordnung? Sind Sie von der Gemeinde?«
»Ich?«, antwortete der Fremde. »Oh, nein.« Er sah Paul dabei an, als taste er ihn mit Blicken ab, erst vorsichtig, dann direkter, prüfender.
»Touristik-GmbH?«, fragte Paul und wich den Blicken aus. Er sah lieber zu seiner Großmutter hinüber, danach zu Napoleon mit seinem Zweispitzhut in der Hand, Max Schmeling war umgefallen. Das war unglaublich, dachte er. Dieser Nullkück hatte nicht nur den Reichsbauernführer am Morgen in Sicherheit gebracht, sondern auch die Schmeling-Skulptur von der alten Eiche losgebunden, umgeworfen und einmal durch das Moor gerollt, vermutlich mit den Brünings zusammen, zumindest sah Schmeling so aus, als sei er gerade ausgegraben worden!
»Entschuldigung, aber in irgendeiner Funktion müssen Sie doch hier sein. Wollen Sie eine der Skulpturen kaufen?«, fragte er weiter und sah den Mann an, der seinen Blick so offen in Pauls Gesicht richtete, als würde er es zeichnen wollen.
»Braucht man immer eine Funktion? Sind Sie so ein Funktionsmensch? Ich kaufe hier nichts. Reicht es nicht, wenn ich Ihnen sage, dass Sie einen schönen Garten haben? Ist es denn Ihr Garten?«
»Ja, wieso? Ich bin hier aufgewachsen«, sagte Paul. Das war langsam wirklich seltsam, stellte er fest. Ihm kam dieser Verrückte aus dem Cafe Central in den Sinn, der hatte ihm auch erklärt, die Menschen würden sich alle an Funktionen klammern, weil sie sich innerlich schon aufgelöst hätten durch bestimmte Brausekräfte.
»Aber man stellt sich trotzdem nicht einfach in anderer Leute Gärten und teilt seine persönlichen Eindrücke mit. Da würde doch jeder wissen wollen,
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