Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
was das soll«, setzte Paul ein weiteres Mal zu seiner Frage an, er musste jetzt sofort herauskriegen, wer dieser Mann war und was er hier vorhatte. »Ihren Namen bitte?«, fragte er streng und knapp.
»Sind Sie ein Kück-Abkömmling?«, fragte der Mann direkt im Gegenzug.
Kück-Abkömmling, dachte Paul, er glaubte irgendetwas Vorwurfsvolles mitklingen gehört zu haben, das »Kück«, schien ihm, war mit so einer verächtlichen Betonung gesprochen worden, aber vielleicht war es auch nur sein allgemeiner Kück-Komplex.
»Und Sie? Mit wem spreche ich hier überhaupt?«, er wiederholte seine Frage noch energischer, ihm wurde es langsam zu bunt.
»Sie haben das doch sicherlich ... nicht?« Der Fremde hielt ihm die Zeitung entgegen. »Also, dann lese ich Ihnen mal vor?« Er las.
In der Künstlerkolonie ...
Er stockte, er schien Probleme mit seiner Atmung zu haben.
...In der Künstlerkolonie Worpswede wurde im Garten ...
»Ach das!«, ging Paul dazwischen, er hatte die ganze Zeit geahnt, dass es sich bei dem Mann eher nicht um jemanden von der Touristik-GmbH handelte. »Das kenn ich schon. Da hat einer der Bauern hier was verwechselt. Ich verstehe nicht, wie eine Zeitung das so ungeprüft schreiben kann. Kaum bekommt jemand eine Ehrung, kommen die Neider und Denunzianten wie immer in unserer Gesellschaft ...« Paul redete einfach drauflos. Er hatte zwar keine Ahnung, was dieser Mann wollte, aber zumindest wusste Paul, was er selbst wollte: keine weiteren Nachfragen zu seinem Erbgrundstück, dem Garten und zum Großvater, das war hier gewissermaßen sein letzter Blue Chip, wenn es darum ging, das Haus und das Anwesen möglichst wertsteigernd zu verkaufen, sonst wäre diese ganze nachträgliche Pfahlgründung sinnlos.
»Ich meine, da kommt ein 100-jähriger Bauer, der in beiden Weltkriegen gekämpft hat, und identifiziert halb blind ein Denkmal als irgendeinen Reichsdingsführer, der in Wirklichkeit ein Boxer ist, ein großer Meister, ein Champion. Kaum hält einer den Arm hoch, sehen die Bauern hier alle Gespenster. Und der Nachbar, der meinem Großvater sein Leben lang vor den Karren fahren wollte, der verbreitet ungeprüfte Nachrichten. Kennen Sie denn wenigstens Max Schmeling? Da liegt er nun im Moor. Im Atelier hängt sogar ein Foto, der Weltmeister-Kampf in New York von 1936. Gegen den braunen Bomber, der galt als unbesiegbar, aber dann kam dieser Mann da. K.o.-Sieg. In der 12. Runde ...«
»Sagen Sie, warum sind hier überall Löcher?«, unterbrach ihn der andere und sah sich misstrauisch um.
»Warum? ...Ja, warum wohl? Wir arbeiten hier. Wir sanieren das Haus!«
»Und was kommt in die Löcher rein? Vergraben Sie wieder was?«
»Das sind Abzugsgrippen! Anfangs flacher, dann muss man immer tiefer graben, so kann das Wasser abziehen, wir müssen entwässern! Unter das Haus wird bald Beton gegossen, Häuser im Moor können versinken. Was nicht auf einer Worps oder Wurte steht, versinkt. Nicht nur die Häuser, die Kunstwerke auch! Schauen Sie mal, wie die gesichert werden mit der alten Eiche dort. Nur der Boxer da, der war zu schwer. Wir haben ihn wieder ausgegraben.«
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte der Mann und zog ein Papier aus seiner Jacke. »Wissen Sie, wie viele Hamme-Nachrichten ich gelesen habe? Wissen Sie, was man für Ausschläge bekommt von Zeitungen, in denen sich der Staub aus so alten Zeiten fängt? Sehen Sie? Die Zeit und die Schwärze sind in mich eingedrungen, ich kann sie nicht mehr abwaschen. Sehen Sie das?«
Paul dachte an die schwarzen Zeithände des Rilkesohns und starrte auf das Papier.
»Bevor ich zu dieser Liste komme, muss ich Sie noch etwas fragen. Haben Sie schon mal von der Nordischen Gesellschaft gehört?«
Paul schüttelte den Kopf. Er dachte an Peter Falk, der Mann hatte etwas von Inspektor Columbo. Eben wurde noch der Garten gelobt, aber kurz danach war man mit der nächsten Frage überfuhrt.
»Die Nordische Gesellschaft ist eine Gesellschaft aller deutschen Nordgesinnten. Im Jahre 1921 in Lübeck gegründet, aber seit 1933 im tiefen Glauben, dass das Heil der Menschheit nur im Norden liege. Natürlich auch in Worpswede. Können Sie mir folgen?«
»Klar«, sagte Paul. »Und was soll ich damit?«
»Ich lese Ihnen jetzt vor, wer da alles im Großen Rat der Nordischen Gesellschaft vertreten war«, verkündete der Mann, dessen Stimme an Festigkeit gewann. Er schlug das Papier mit einer energischen Bewegung auf und trug vor:
Dr. Drechsler: Gründer der
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