Der Mantel - Roman
voneinander.«
Er beschloss, den Ostfriedhof zu besuchen. Vom Lehel war es nur ein Katzensprung mit der Straßenbahn. Er wusste schon, dass sein Bruder dort eine Familiengrabstätte beantragt hatte. Er hatte nachgelesen, was es zu wissen gab über den Platz. Etwas war damit, meinte er sich zu erinnern. Er hatte es schnell gefunden. Der Friedhof war auch ein Unfriedhof der deutschen Geschichte. Wie sein Heimatviertel Lehel um 1900 wesentlich ausgebaut, aber 1929 um das Krematorium erweitert. Das erregte die der Erdbestattung verpflichtete katholische Kirche. Später, 1933, wurde der 1919 ermordete Revolutionär Kurt Eisner von dort auf den israelitischen Friedhof verbracht, sein Denkmal zerstört. Der Stolz des Friedhofs, das Krematorium, diente schließlich zur Verbrennung Tausender Regimegegner und Juden sowie anderer Verfolgter aus den Gefängnissen der Stadt und den KZs in Buchenwald, Dachau und Auschwitz.
Aber der Friedhof sollte seine grausige geschichtliche Bedeutung auch noch als Sühneplatz bekommen. Im Oktober 1946 fuhren die Amerikaner zwölf Särge, zwei zur Tarnung des Vorhabens leer, auf den Friedhof. Die zehn Leichen waren nicht, wie behauptet wurde, amerikanische Soldaten, sondern die neun Hauptkriegsverbrecher der Nürnberger Prozesse sowie der seiner Hinrichtung durch Selbstmord entgangene Reichsmarschall Hermann Göring. Wie ihre zahllosen Opfer zuvor, wurden die Täter an eben diesem Ort eingeäschert und ihre Asche dann in die Isar gestreut.
Nun sollte ihr Vater dort beerdigt werden. Als Erster der Familie, der Platz aber sollte für sie alle sein in der neuen bayerischen Heimat. Schmidt konnte keinen Zusammenhang herstellen, die düstere Geschichte des Friedhofs passte nicht zu der seiner Familie.
Er beobachtete den breit angelegten Bau mit seinen zentralen und jeweils links und rechts flankierenden Nutzgebäuden, wie eine Schranke von der Außenwelt zur inneren Welt der Toten. Das Ochsenblutrot der Mauer erinnerte an die vitalen Lebenskräfte, aber auch an Vergänglichkeit, es waren die Farben von Pompeji. Für Schmidt das Symbol für die ewige Bedrohung durch plötzliche Schicksalsschläge, die unsere Existenz so atemlos und zerbrechlich machten. Das Blutrot war geblieben, über die Verwüstungen der Asche hinaus – als könnte es jederzeit aus den Tiefen austreten, dick, dunkel und lebendig. Wie durch einen Schlitz in der blutenden Wand trat er ein in das Reich der Toten. Und die mächtige rote Mauer? Schützte sie die Toten vor den Störungen durch das Leben oder die Lebenden vor den Übergriffen aus dem Schattenreich? Die Geister, die auf diesem Friedhof zur Ruhe kommen sollten, konnten für eine Ewigkeit den Lebenden den Schlaf rauben.
Pax lautete die Inschrift auf dem Zentralgebäude. Jener Friede, der so vielen hier Eingeäscherten nur nach ihrem Tode zuteil werden konnte. Ihr Leben hatte so wenig Friedliches bereitgehalten. Friede, das war die Verheißung. Einige Meter weiter eine andere Inschrift am Gebäudegiebel: Die Stätte kennt nicht Arm und Reich. Tod und Verwesung macht sie gleich. Die Kälte des Novembertages bemächtigte sich plötzlich seines fülligen Körpers. Warum mussten sie immer im November sterben, dem persischen Monat des Todesengels? Warum fielen alle Blätter zu dieser Zeit? Als wiche das Leben zurück, systematisch. Als öffneten sich die Adern des Lebens, blutrot wie die letzten Blätter, die von den schwarzen Bäumen fielen. Tod und Verwesung machen sie alle gleich, die Täter und die Opfer. Das musste die Versöhnung, Pax , sein, von der die pathetischen Inschriften kündeten. Wie lange würde es dauern, bis Vater Karl sich hier in die Befriedeten einreihte?
Schmidt war weitergegangen. Auf der Suche nach B24 trieb es ihn planlos herum. Mal führte Shiva, mal er. Er hatte ihn vor Betreten der Anlage an die Leine genommen. Er wusste, dass Hunde hier keinen Zutritt hatten. Aber an Wochenenden hatte er ihn ständig bei sich. Und hier gab ihm das kraftvolle Tier Zuversicht. Wie im Englischen Garten beherrschte er auch hier den Gehweg. Links und rechts markierte er die Randsteine, mit denen die Gräber gegen den Kiesweg abgegrenzt waren, nahm die herbstlichen Gerüche des Verfalls auf, konzentriert wechselte er die Seiten, gründlich wie ein Landvermesser. Konnte Shiva durch die nasskalte Erde riechen, den Geruch der Verstorbenen in ihren eingestürzten Holzkisten? Er widmete sich seiner Erkundung ohne einen Moment der Ablenkung. Es war auch kein anderer Hund
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