Der Mantel - Roman
seine Grundentscheidungen feststanden, zeichnete er den Plan auf ein Blatt Papier. Er schraffierte Flächen und nummerierte sie, versah sie mit einer darunter angefügten Legende. So konnte er das Ganze später bei einer Gärtnerei in Auftrag geben. Er genoss die Tätigkeit. Seit Jahren hatte er nicht mehr gezeichnet. Die Befriedigung war unmittelbar. Für einen Anwalt ein seltenes Gefühl. Ebenso aber auch das Gefühl, seine Rolle konstruktiv gespielt zu haben. Es erleichterte ihn, seinen Vater zumindest ein wenig in seiner Obhut zu haben, er hatte ihm eine schöne Umgebung geschaffen, eine, die zu ihm passte und ihm gefallen hätte, wenn er sie gesehen hätte. Fast fühlte er sich ihm nahe. Er war es, der dem ihm so fernen Vater die letzte Wohnstätte angemessen eingerichtet hatte.
Er musste daran denken, wie sie vor vierzig Jahren in die Wohnung im Lehel gezogen waren. Der kleine Junge, der er gewesen war, wollte beim Einzug helfen. Sein Vater rannte zwischen den Packern umher. Als er Schmidt sah, herrschte er ihn an: »Geh du raus spielen, du störst hier nur und das Auspacken dauert wegen dir länger.« Er war gegangen, enttäuscht. Nun aber war er am Zug und niemand würde ihm im Weg stehen.
***
Schmidt hebt kurz den Blick von dem tiefer werdenden Loch auf den Erdhaufen vor ihm. Daneben liegen die sorgfältig ausgestochenen Stücke der Grasnarbe, die er später wieder zur Abdeckung auftragen will. Der Natur zurückgeben, denkt er. So wird es sein, die Erde wird sich schließen ohne Spur, ohne Hinweise. Hier, wo Shiva so oft nach wilden Kurzsprints hinter Fahrrädern oder anderen Hunden her, triumphierend und seiner selbst sicher, das Bein gehoben hatte, um den mächtigen Stamm mit einem Spritzer zu markieren. Schmidts Aufgabe lag darin, Kämpfe mit größeren Hunden zu verhindern. Zu gern stellte Shiva Doggen und anderen großen Hunden nach, die ihn deutlich überragten. Dann folgte, wenn nicht ein kurzes Bissgefecht, so sein Versuch, die anderen Hunde zu bespringen. Die Kastration hatte dieses Dominanzgehabe nicht mitbeschnitten. Shiva übte sich darin bei jedem überlegenen Gegenüber. Spätestens dann pfiff Schmidt ihn zurück. Manchmal musste er gar mit der Wurfkette den wilden Übermut seines Hundes bremsen. Irgendwann wachte er auf und kehrte in ungestümem Lauf zu ihm zurück. Die ersten Meter waren voller Stolz auf das erfolgreiche Scharmützel, dann verlangsamte er den Schritt. Als er bei Schmidt ankam, war er schuldbewusst und konzentriert. Die Ohren wippten nicht mehr, sondern waren gespannt angelegt. Das kühne Hundegesicht schien zu fragen, die Augen baten groß und offen um Verzeihung. Schmidt lobte ihn dann meist dankbar, dass er ihm einen größeren öffentlichen Auftritt erspart hatte.
Nachdem sich die Trauergemeinde von der Familie verabschiedet und schnellen Schrittes zum Ausgang entfernt hatte, waren sie mit wenigen Freunden der Familie in ein stadtbekanntes Lokal gefahren. Der Leichenschmaus fand in der Osteria statt, dem italienischen Traditionsrestaurant in Schwabing. Warum hatte sein Bruder dieses Lokal ausgesucht, in dem auch Hitler schon gegessen hatte? Nicht weit davon entfernt lag der Schellingsalon , in dem er seine frühen Reden gehalten hatte. Sicher keine Absicht, sondern eine der unerklärbaren Schleifen, die mit dem Ostfriedhof und seiner dunklen Geschichte begonnen hatten. Die etwa dreißig Personen drängten sich um die reservierten Tische, dankbar, der Kälte des Friedhofs entronnen zu sein. Seine Mutter, sein Bruder, einige ältere Verwandte, die er nur von Familienfesten kannte, und die engsten Kollegen und Freunde seines Vaters aus dem Herrenclub. Schmidt nahm den stumpfen, leicht sauren Geruch von Alter war. Die Nässe ihrer Kleidung mochte es verstärkt und, so kam es ihm vor, um Steinpilzanklänge bereichert haben.
Es beruhigte ihn, dass er rasch einen Platz neben seiner Mutter gefunden hatte. Weißwein und die Minestrone als Vorspeise zum Warmwerden. Wartend betrachtete er die Gesichter ihm gegenüber. Man muss viele Begräbnisse besucht haben, um gleichermaßen Betroffenheit und Anteilnahme auszustrahlen. Diese paart sich dann mit der Befriedigung über das eigene Überleben und der Freude, alte Freunde wiederzusehen. Die Stimmen raschelten in seinem Ohr, wie sich entfaltendes Pergamentpapier. Sie wurden mit jeder Minute bestimmter, zutraulicher. Der Anlass machte nun dem Gemeinschaftsgefühl Platz. Die Hinterbliebenen, dachte er, als verstünde er den Wortsinn
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