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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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zum ersten Mal. Schwarze Anzüge, die für die großen Anlässe vor Jahren gekauft worden waren und an denen man jetzt die Unentrinnbarkeit der Veränderung ablesen konnte. Im Alter gab es zwei Größen: zu eng oder vogelscheuchenweit. Die wenigen Vertreter der Stadt und des Freistaates fielen überwiegend in die erste Kategorie. Sie strahlten wie die Vertreter aus dem Herrenclub vollendete Selbstzufriedenheit aus. Die brauchte ihren Platz, dachte er, während er verstohlen die ihm unbekannten Honoratioren musterte. Um die kümmerte sich sein Bruder, weil sie seiner Welt so viel näher waren und es noch mehr werden sollten.
    Schmidt erinnerte sich genau, wie seine Mutter seine selbstvergessenen Betrachtungen beendet hatte, so, wie man Vögel mit einem Klatschen der Hände aus einem Feld aufscheucht. Er hatte gerade seine Zuordnungen zur Familie Schmidt abgeschlossen, die ihm ob der großen, knochigen Figuren seiner so unvertrauten Verwandten leichtgefallen war. Da fragte ihn seine Mutter mit unterdrückter, fürsorglicher Stimme: »Ulrich, du bist so abwesend. Trauerst du?«
    Er lenkte den Blick auf die Karottenscheiben in der klaren Minestrone: »Ja, Mutter, ich trauere. Ich bin so weit weg. Das alles hier ist nicht meines.« Nun flüsterte er, immer noch zur Suppe sprechend: »Aber am meisten trauere ich, weil ich keine Trauer für Vater empfinden kann.« Er presste die letzten Worte mühsam heraus: »Ich habe es versucht. Bei der Aussegnung. Am Grab. Ich kann es einfach nicht. Das macht mich traurig. Mehr noch, es erschreckt mich.«
    Sie ließ eine kurze Stille eintreten, in die die am Tisch ausgetauschten Geschichten aus dem Leben des Verstorbenen eindrangen, angeregt und mit dem Stolz der Augenzeugenschaft berichtet.
    »Du musst nicht um deinen Vater trauern.« Sie hatte es leicht gesagt, ohne besondere Betonung.
    »Wie? Ich verstehe nicht!« Er ließ den Löffel sinken und schaute die schmale, immer noch schöne Frau an. Wie zerbrechlich sie in ihrer strengen schwarzen Kleidung aussah, aber nun rüttelte sie an seinem Fundament, ihre dunklen Augen waren unverwandt auf sein sich nun hektisch rötendes Gesicht gerichtet.
    Als wollte sie ihn fixieren, ohne ihm in die Augen schauen zu müssen: »Versteh es genau, wie ich es gesagt habe. Karl war nicht dein Vater, Ulrich.«
    Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, als flösse es in die Magengrube, wo es eine plötzliche drangvolle Enge auslöste, die das Herz zu vertreiben wollen schien. Seine Stimme war unterdrückt und rostig, als habe er lange nicht gesprochen. »Glaubst du, das ist der richtige Zeitpunkt für diese …« – er hielt hilfesuchend inne – »Eröffnung?« Nun blickte ihm seine Mutter fest in die Augen. Sie waren ganz schwarz geworden vor Entschlossenheit. So hatte er sie noch nie gesehen. Er wich unwillkürlich zurück vor der Bestimmtheit, mit der sie ihn zur Konfrontation mit ihrer erschütternden Nachricht zwang. »Oh ja. Genau der richtige. Karl hätte es nicht verdient, es auch nur einen Moment früher zu sagen. Und du durftest es keinen Moment später erfahren.«
    Erst jetzt wich die Heftigkeit aus ihren Augen, die feinen Züge lösten sich aus der Starre der letzten Minuten. Ihre knochige Hand mit den langen, schmalen, kalten Fingern legte sich auf die seine, die den Löffel mit einem Klirren in den Teller hatte fallen lassen, um sich angespannt zur Faust zu ballen. Unwillkürlich wollte er seine Hand zurückziehen. Er beherrschte sich jedoch, so sehr ihn die plötzliche Fürsorglichkeit seiner Mutter auch irritierte.
    »Wusste Papa es?« Seine Augen hefteten sich nun bohrend an die ihren.
    Sie antwortete sanft, wie man einem Kind beruhigend zuredet: »Wir haben nie darüber gesprochen. Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte er eine Ahnung.« Sie starrte kurz auf die in Erinnerungen vertiefte Trauergemeinschaft. »Ja, er wusste es wohl. Aber er wollte es nicht aufklären. Lass uns später unter vier Augen darüber reden. Er war ein guter Mann«, setzte sie schließlich mit dünner Stimme hinzu.
    »Wer ist dann mein Vater? Und weiß der es?«, stieß er heftig hervor, so dass sich einige der näher Sitzenden zu ihnen umdrehten, erstaunt über die dem Anlass so unangemessene, erregte Tonlage. Der Druck der Hand seiner Mutter auf der seinen verstärkte sich, als sie sagte: »Ulrich, bitte. Wir werden darüber reden. Aber nicht hier. Du darfst nicht weiter fragen. Es passt nicht hierher, bitte!«
    Ihr Ton bekam nun etwas

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