Der Mantel - Roman
zugegen. Kein potenzieller Herausforderer.
Schmidt und Shiva, zwei, die durch die parkähnliche Anlage irrten, wie die toten Blätter, die der Novemberwind durch die Wege trieb. Über ihnen die dürren Arme von Kastanien, Rotbuchen, Ahorn, Platanen. Schmidt meinte zu stehen, reglos im böigen Wind, während die Grabsteine an ihm vorüberzogen. Unvergessen, unvergesslich rief es ihm von allen Seiten zu. In Stein gehauene Botschaften, die das Vergessen leugnen wollten. Hilflos, jede eine Kapitulation vor der Zeit. Ihm war, als läge sein Vater schon hier und er käme dem Unvergessenen zuliebe. Schmidt suchte seinen Platz, seinen Stein. Als wäre es nicht genug, stand auf einigen Grabmälern eine gelbe Aufschrift »Unfallgefahr – Grabstein ist lose – bitte sofort wieder sachgemäß befestigen!« Wer ordnete hier an? Mahnung für niemanden, Unfallgefahr. Befestigen, sachgemäß – Deutschland ist so abstrakt, dachte Schmidt.
»Du zeigtest mir das Leben«, stand da plötzlich auf dem Grabkreuz, umgeben von lustigen Plastikwindrädern und mit Wäscheklammern befestigten bunten Kunststoffschmetterlingen. Er sah ein ernsthaftes dunkelhaariges Mädchen vor sich mit großen braunen Augen. Sie schauten ihn an, ungläubig und doch des Ausgangs gewiss. Der Schrecken nahm ihm den Atem, er ging so schnell er konnte weiter. Da hat das Leben die Schleuse des Todes noch einmal rückwärts durchschritten, und weil so viel davon noch nicht gelebt worden war, hatte das Mädchen seine Windräder zurückgelassen, damit der Herbstwind sie noch einmal drehte.
Er hatte sich B24 erspart, hatte es wohl nicht sehen wollen vor der Zeit. Er kannte vom Plan die Ausmaße und die Lage an einem der Nebenwege in der leichten Senke des Friedhofs. Auf dem Rückweg, vorbei an Schiefer, Sandstein, Granit und Marmor, Engeln mit Zweigen und Beschwörungen, begegnete ihm die Friedhofskatze. Standesgemäß schwarzes Fell, dachte er, und fett, Fütterungen oder Mäuse und Ratten, die hier die Prozesse beschleunigen mochten. Shiva nahm von ihr keine Notiz. Als wäre sie eine Friedhofsangestellte.
Erst Tage später begann er mit der von Franz verordneten Lektüre der Geheimnisse der Friedhofsgärtnerei. Die grundlegenden Gedanken hatte er rasch verstanden. Alles Immergrüne, Tannen, Efeu, Hauswurz, Rhododendron, steht für die Vergänglichkeit, aber auch für ewiges Leben. Hängende Blüten wie die der Akelei und des Maiglöckchens für Maria und die Demut. Schönheit und Tod, Eros und Thanatos finden sich in Rose und Margerite, wieder Mariensymbole. Und Farne, Frauenmantel, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, sind Symbole der Jungfrau Maria. Überhaupt, stellte er fest, dominierten die Mariensinnbilder, Jesus fand sich allenfalls im aufstrebenden Ehrenpreis. Leicht erschlossen sich Himmelsschlüssel, Jakobsleiter, Immergrün, Glockenblume, Zaubernuss, Vergissmeinnicht und Maiglöckchen, die Marienträne. Er wusste, Lilien mussten eine Rolle spielen – Symbole der Schönheit, Reinheit und des Todes, aber auch der unglücklich Liebenden. Immer hatte er gewusst, dass die unbeholfene Zärtlichkeit seines Vaters seiner Mutter lästig war. Wenn er ihr liebkosend einen Klaps auf den Po geben wollte, gefror seine elegante Mutter förmlich. Für den Landmann aus Schlesien war es gleichermaßen Anerkennung wie zärtliche Annäherung. Sie hingegen suchte dem auszuweichen, beschämt und erniedrigt.
Lilien, Blumen der unglücklichen Liebe, hatte Karl verdient. B24 war nicht riesig, die Frage war zunächst das räumliche Grundkonzept für die Grabfläche. Ein Kreuz, ein Quadrat, ein Kreis? Er blätterte in den religiös getränkten, pietätsschwangeren Anweisungen des Ratgebers, den sein fürsorglicher Bruder ihm in die Hand gedrückt hatte. Verblüfft hielt er bei der Raute inne. Sie werde, so der Text, häufig als Symbol für das weibliche Genital verwendet und stünde allgemein für Sexualität und Fruchtbarkeit. Für Gräber wohl eher keine geeignete Bepflanzungsform. Er verwarf die Idee, seinem Bruder einen Streich zu spielen, entschied sich für eine von Steinen und Flusskieseln dominierte Lösung. Sie wurde dem statischen Charakter seines Vaters am besten gerecht. Er verband sie mit Buntnesselbewuchs und Inseln von Purpurglöckchen und Feuersalbei. Die roten Pflanzen standen für ihn für das Leben und die Vergänglichkeit zugleich. Die roten Flächen in den Blättern der Buntnessel würden immer die Verbindung zwischen Leben und Tod herstellen.
Nachdem
Weitere Kostenlose Bücher