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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Phantasien und Ideen, aber genauso zu Depressionen neigend. Nur ihr sehr aktives gesellschaftliches Leben hatte die zierliche Frau vor dem Verlust ihres Lebenswillens bewahrt. Ihre zwei Söhne und die vielen Bekannten und Freundinnen, die sie sich durch das Bridgespiel, die Theaterkreise und andere Kulturzirkel in Zeiten der relativen Untätigkeit erworben hatte, hatten unmerklich den Verlust des Ehemanns zu Lebzeiten abgefedert. Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens seit vielen Jahren aber war die Gemeinschaft der Freunde der Staatsoper. Hier war sie sehr aktiv durch die Veranstaltung von Benefizkonzerten, Gesprächskreisen, Reisen. Ihre Passion machte sie unersetzbar, fast schon war sie zu einem Mitglied des Ensembles geworden.
    Sein Vater dagegen hatte nach einer erfolgreichen Laufbahn als hochrangiger Staatsbeamter in der bayerischen Landesentwicklungsplanung keinen neuen Lebensinhalt mehr gefunden. Groß und hager, mit seinem ernsten Gesicht fast an Karl Valentin erinnernd, hatte er Spaziergänge und ständige Nachrichtenaufnahme zu seinen Hauptbeschäftigungen gemacht. Er wirkte getragen und streng. Je älter er wurde, umso mehr. Schmidt sah ihn allzu oft in einem halbdunklen Zimmer sitzen, die Augen wie festgekrallt an einer Zeitungsseite. Unwillig, die Welt noch anders als in politischen Berichten und Kommentaren des Münchner Merkur oder des Bayernkurier wahrzunehmen. Allenfalls Stammtische mit seinen früheren Kollegen oder Rotariern, den Gesinnungsgenossen im Herrenclub, boten ihm Gelegenheit, sich auszutauschen. Seine Frau wurde aus seiner Welt Jahr für Jahr entschiedener ausgeschlossen.
    Aber auch Schmidt hatte keinen Platz in den Kreisen, die sein Vater um sich gebildet hatte. Sein vier Jahre jüngerer Bruder Franz dagegen hatte seine Position gefunden.
    Noch hier, Jahre später und durch das leise Rauschen des Regens kann er seinen Vater hören: »Franz hat recht, Ulrich. Ich sehe es schon seit Jahr und Tag wie er.« Diese sonntäglichen Mittagsgespräche waren Schmidt zuwider mit ihren tagespolitischen Plattitüden und der Lebendigkeit des bayerischen Amtsblatts.
    »Wir stehen erschüttert am Grab meines Vaters, eines großen Staatsdieners …« Schmidt hörte ein Rauschen in seinen Ohren. Als hätte sein Blutdruck zugenommen. Er hörte es besser als die Rede seines Bruders. Immer wieder zwang er sich, ihr zu folgen. Aber seine Gedanken führten immer weiter weg. Warum nur hatte er Jura studiert?
    »Ein Geschichtsstudium reicht vielleicht für einen Lehrberuf. Du musst etwas Lebendiges lernen. Du musst dich in der Welt durchsetzen lernen. Jura ist die beste Voraussetzung dafür.« Wie oft hatte sein Vater das wiederholt. Irgendwann hatte er klein beigegeben. Sein Vater hatte ihm aber auch düstere Ahnungen mit auf den Weg gegeben, ausgerechnet in ihrem letzten längeren Gespräch. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du hast noch große Herausforderungen vor dir. Und beruflich ist es nicht leichter für dich geworden, seit du dich mit der Sozietät, die ich dir eröffnet habe, überworfen hast. Nun praktizierst du allein. Als Einzelanwalt wirst du es schwer haben.«
    Eine böse Stimme in Schmidt wollte antworten: Darüber musst du dir schon keine Sorgen mehr machen. Er verfolgte mit den Augen den Infusionsschlauch von dem halbvollen kleinen Kunststoffsack herunter bis zu der Stelle, wo er in der fast durchsichtigen Hand endete. »Mach dir keine Sorgen. Die Kanzlei läuft bestens. Ich denke über einen weiteren Anwalt nach.« Er hasste es zu lügen. Und es war ein Verstoß gegen die Prinzipien seines Vaters. Er versuchte, in den wässrigen, trüben Augen des erschöpften alten Mannes zu lesen: War er zu müde oder glaubte er diese Erfolgsmeldung ohnehin nicht?
    »Das wäre mir eine Erleichterung. Ich sehe die Laufbahn deines Bruders vor mir. Aber für dich …« Er beendete den Satz nicht. Ob aus Kraftlosigkeit oder weil er den Zweifel an seinem älteren Sohn nicht weiter ausführen wollte, blieb offen.
    Schmidt erwiderte ausweichend: »Schone dich lieber, damit du wieder zu Kräften kommst.«
    Ein sanftes Lächeln glitt über das Gesicht seines Vaters: »An klaren Tagen kann ich den Tod gut sehen.«
    Schmidt versuchte abzuwiegeln: »Deine Prognose ist nicht so hoffnungslos. Und wenn sie es wäre, erinnerst du dich an den Predigtsatz, den wir an Weihnachten gehört haben, ›Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist‹?«
    Wieder lächelte der alte Mann matt: »Das ist gut. Ich hatte es vergessen.« Und

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