Der Mantel - Roman
Flehentliches. In ihm wirbelten die Gedanken wie welke braune Blätter durcheinander. Er sah die Trauergemeinde vor sich verschwinden, von der Zeit gezauste Krähen auf Telegrafenleitungen, unendlich weit weg. Seine Mutter bot ihm keine Zuflucht mehr. Sie hatte den Sturm in ihm erzeugt, und ihr Rückzug in Schmerz und Mitgefühl ließ ihn allein zurück. Wie konnte sie ihm das antun? Über all die Jahre diese Lüge! Und wie konnte sie das seinem Vater antun? Seinem leiblichen Vater?
Der Weißwein und die sich überschlagenden Gedanken flossen unerbittlich aus seinem Gehirn, rotglühender Lavastrom, der durch seinen Körper nach unten rann. Er musste heraus in die kalte Novemberluft. Er sprang auf und riss sich aus der Umklammerung seiner Mutter los, die die sichtbare Veränderung erschrocken beobachtet hatte. Er blickte um sich, wieder einmal in seiner ungeliebtesten Rolle, im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit, herausgehoben aus dem Schutz des Mittelmaßes, Spekulation und Neugierde preisgegeben. Die Augen der Krähenschar auf sich gerichtet, sagte er laut: »Ich muss gehen. Ich …« Er stolperte über den Versuch einer harmlosen Verabschiedung, wünschte noch ein gutes Mahl, und noch bevor irgendjemand ihn aufhalten konnte, stürzte er vom Tisch zur Garderobe und von dort auf die menschenleere Schellingstraße, lief planlos in Richtung Innenstadt: Sein Atem ging wie wild. Zu verstört, um das Fragengewirr in seinem Gehirn aufzulösen. Wenigstens erkaltete der Lavastrom nun.
Shiva begann schon wie wild zu bellen, als er ihn im Treppenhaus hörte. Er sprang lärmend an der Tür hoch, bevor Schmidt sie aufsperren konnte. Der Hund schien aufgebracht, als hätte er seine Gefühlslage von weitem empfangen. Er sprang immer wieder an ihm hoch, warf ihn fast um. Schmidt rief ihn hart zur Ordnung. Dann presste sich Shiva an seine Oberschenkel und leckte ihm die Hand. Allmählich wurde es in ihm klarer, er musste Zwiesprache halten und Shiva würde ihn begleiten. Es gab offene Fragen aus dem letzten Gespräch mit seinem Vater. Und er musste erfahren, ob die Enthüllung seiner Mutter jene Herausforderung war, von der sein Vater gesprochen hatte.
Der Friedhof war nun, da es bald dunkel zu werden versprach, noch leerer. Nur wenige Alte scheuchte der nasse Wind durch die Kieskorridore. Shiva war ungewohnt versammelt und ging bei Fuß, die Schulter auf Höhe seiner Knie, ohne nach links oder rechts zu schauen. Das Grab fiel auf. Die Kränze leuchteten mit ihren grellfarbenen, goldbedruckten Schleifen, selbst im versiegenden Licht des Spätherbstnachmittags. Schmidt las keinen der Texte, sondern prägte sich das Bild ein. Der Grabstein spiegelte die Strenge des Vaters wider, wenn er auch zu pathetisch wirkte. Die Kränze und der Schmuck des eben vergangenen Ereignisses waren seltsam laut und kirmeshaft.
***
Plötzlich hält Schmidt beim Graben inne und betrachtet die Grube unter dem mächtigen Baum. Die Erinnerungen an das Grab des Vaters haben ihn in die Gegenwart seiner ungewohnten Tätigkeit zurückgeführt. Der Haufen von Erde und abgeschlagenen Wurzelstücken vor ihm ist beträchtlich gewachsen, obwohl das Loch keine dreißig Zentimeter Tiefe misst, zu wenig, um Shiva sicher die Ruhe der langen Nacht im Erdreich zu gewährleisten. Er löst die starren Finger vom Spatengriff und streckt sie, so gut er kann. Er fühlt sich unendlich alleine in diesem Wald inmitten der Stadt. Er dehnt sich kurz, schüttelt den Kopf und greift wieder zum Spaten.
***
Ja, an jenem Abend vor fünf Jahren konnte er mit Karl, seinem Vater – Stiefvater –, an dessen Grab plötzlich unbefangen Kontakt aufnehmen. Er stand regungslos trotz des feindlichen Wetters. Shiva hatte er von der Leine gelassen. Der Hund hatte die Kränze beschnüffelt, als wollte er ihre Botschaften verstehen. Dann hatte er neben Schmidt Platz genommen, sich auf die Hinterbeine gesetzt, den Blick mit zusammengekniffenen Augen auf den Grabstein gerichtet.
Schmidt war nun klaren Verstandes, die Schwaden von Weißweinnebel in seinem Gehirn hatte der Wind fortgeblasen. Karl musste früh gewusst haben, dass er nicht sein Kind war. Die Fährte musste zu Tomas´ Marek führen. Der Baritonsänger war so etwas wie ein ständiger Freund des Hauses. Vor Jahren ein gefeierter Sänger, in München nicht nur von seiner Mutter für seine Stimme und Bühnenpräsenz verehrt. Er hatte seine Mutter früh, als ganz junge Frau, kaum über zwanzig Jahre alt, kennengelernt. Er war aus der
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