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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Tschechoslowakei geflohen. Junger Sänger, wahrscheinlich noch in der Ausbildung, aber schon ausgestattet mit der intensiven Ausstrahlung eines Mannes, der seine Rollen mit Haut und Haaren spielt. Der die Einstellung seiner Landsleute gegenüber Deutschen mit über die Grenze genommen hat, voller Skepsis und Distanz, gleichwohl mit einem Hauch von Minderwertigkeitsempfinden gegenüber dem mächtigen Nachbarn. Eher klein und bestimmt, damals schon von kräftiger Figur, musste er mit seiner ans Hochmütige grenzenden Brillanz tiefen Eindruck auf die schöne junge Frau gemacht haben.
    Schmidt erinnerte sich an die Laudatio auf dies und jenes, manchmal auf seine Mutter, im Freundeskreis der Staatsoper. Der Mann musste ihr musisches Blut erkannt und auch gewusst haben, wie schnell es in heftige Erregung zu versetzen war. Nicht der germanische Siegfried, nicht der machtvolle strahlende Sieger vermochte, so versuchte Schmidt der Jugend seiner Mutter nachzuspüren, ihren wohlerzogenen Anstand zu entwaffnen. Nein, es war jene Mischung aus Künstlertum, Intensität in der Selbstdarstellung und gleichzeitig Selbstzweifeln und intellektueller Sprödheit, die sie – ja was? – tun ließ.
    In der nassen Kälte auf dem grauen, menschenleeren Friedhof war es nicht leicht, sich die Umstände vorzustellen, unter denen er entstanden sein mochte. Sie war gerade verheiratet, spekulierte er. Erst Wochen später sollte er die Erklärungen seiner Mutter hören. Hier stand er nun still, den Blick fest auf den schwarzen Stein geheftet mit dem goldenen Kreuz und dem noch etwas verlassen wirkenden Namen seines Vaters mit den schlichten Lebensdaten. Sein Haar hing in matten Schlangen von seinem Scheitel herunter, während Shiva unbewegt auf seinen Hinterbeinen saß und die Kränze zu fixieren schien.
    Wie konnte seine Mutter ihren Ehemann so früh betrogen haben? Warum hatte sie ihn überhaupt geheiratet? Bestimmt war Tomas´ ihre große Leidenschaft gewesen. Aber warum solch ein Verrat? Und warum hatte sie ihn geheim gehalten? Wie konnte sie mit Karl leben, so viele Jahre?
    Sicher war dagegen, dass sein Bruder Franz der Sohn seines Vaters war. Aus dem Gesicht geschnitten und aus dessen Persönlichkeit modelliert. Spätestens bei Franz’ Geburt hätte Karl wissen müssen, dass der Erstgeborene zu weit aus der Mendel’schen Vererbungskette herausfiel. Und doch, soweit er sich erinnerte, hatte er ihn nie als Kuckucksei behandelt, er hatte ihn nicht aus dem Nest geworfen. Stattdessen hatte er ihn streng erzogen: »Kopf hoch! Schultern zurück!« und: »Stell dich nicht so mädchenhaft an!«, wenn ihm die Tränen in die Augen schossen bei einer Jodbehandlung an der offenen Hand. Und zuletzt zerrte Schmidt das am heftigsten verdrängte Bild seiner Kindheit hervor, jene harten Schläge mit der flachen Hand ins Gesicht. Schmerzhaft und demütigend, als Strafe für Unehrlichkeit oder was Karl dafür hielt. In diesem Moment, da er intensiv das Seelenleben des Stiefvaters nachvollzog, war ihm diese Vorstellung unangenehm, wie eine lästige Fliege versuchte er die Erinnerung zu verscheuchen.
    Karl hatte sie beide stets gleich behandelt. Als hätte er Angst vor dem Verdacht, aus einem bestimmten Grund ungerecht zu sein. Er hatte die Spiegelbildlichkeit jeder Zuwendung, aber auch jeder Versagung zu einem schwer verständlichen Korsett werden lassen. Von den Schulbroten zu den Taschengeldern, Notenentlohnungen, genehmigten Zeiten vor dem Fernseher und am Ende auch den Strafen vollzog sich alles im Gleichmaß.
    Karl hatte mit Franz allerdings viel mehr Anknüpfungspunkte. Der erlernte die Jagd, interessierte sich für Politik und trat den Jugendorganisationen der konservativen Partei bei, damals noch faktisch die Staatspartei. Er selber hatte sich in der Literatur verloren, hockte in seinem Zimmer und erträumte sich aus dem Gelesenen seine Welt. Auf mächtigen Schwingen trugen ihn die druckergeschwärzten Seiten heraus aus dem dumpfen Beamtenhaushalt. Sie führten ihn ins tierdampfende Labyrinth des Minotaurus, zu den felsengesäumten Schluchten Karl Mays Indianer, später auf die einsamen Wege eines Hans Giebenrath. Seine unstillbare Phantasie bedurfte keiner Bestätigung durch Freunde. Er wusste um die Fürsorge seiner Mutter und die strenge, abstandsgenaue Zuneigung seines Vaters. Hatte er unter dem Unverständnis seines Vaters für seine Welt gelitten, suchte er doch nie andere Gründe dafür als das grundverschiedene Wesen des Patriarchen, dessen

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