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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Friedhofsaufseher Shiva endgültig verbannen wollte. Er hatte eine Elster gejagt. Schmidt konnte erreichen, dass er bleiben durfte, angeleint. Da der Hund den Friedhof als einen besonderen Raum der Stille erkannt hatte, hatte er bis auf wenige Ausbrüche seines ungestümen Naturells ein geradezu behutsames Verhalten an den Tag gelegt. Schmidt kannte die Abläufe dieses stillen Stadtquartiers genau. Die Beerdigungen, die Friedhofsgärtner, die unbeobachtet respektlos mit den ihnen anvertrauten Familienruhestätten umgingen. Er hatte sie schon in ein Gebüsch pinkeln und sogar mit Knochen spielen gesehen. Er blieb von all dem unberührt.
    Meist ging er rasch den breiten Hauptweg entlang, dann die sich verjüngenden Abzweigungen mit ihren Quartieren rechts und links bis zum Grab seines Stiefvaters. Dort blieb er dann eine lange Weile reglos stehen, vom Wetter unbeirrt in seine Gedanken vertieft. Ließ die Zeiten mit seinem Vater wiedererstehen, ein Historiker in eigener Sache. Entrümpelte sein Gehirn auf der Suche nach dem Tatsächlichen. Nahm wahr, wie sich mit fortschreitender Zeit Gemütslagen, Empfindungen mit einzelnen Bildern und Situationen verbanden, wie Standfotos an die Stelle von echten Details traten. Als hätte sein Gehirn eine Lösch- und eine Kompressionsfunktion zu bieten. Die brauchte es wohl, um solche Datenmengen zu verdichten. Aber wann benutzte es die Lösch- und wann die Kompressionsfunktion?
    Denn manche Erinnerungen kamen langsam zurück, und er meinte zu wissen, wann sie ihm verlorengegangen waren. Triviale, schöne und schreckliche. Sein Gehirn verdrängte also nicht nur Negatives, sondern auch Positives. Warum und wie bewertete es, was belanglos war und nicht mehr zur Sammlung bedeutender Bilder gehören sollte? Wie gewann es gelöschte oder aufgelöste Sequenzen zurück? Denn das gelang, wie er nun bei seiner Suche nach seinem Vater, nach seinem Stiefvater und seiner Mutter feststellte. Der Datenspeicher konnte unter größter Anspannung zurückfahren. Wie ein Orang-Utan hangelte er sich von nackten Daten, die wie Lianen im Nichts hingen, weiter zu belaubten Ästen, zu noch verfügbaren Bildfolgen von häuslichen Festen oder prominenten Streitigkeiten.
    Konnte sich das Gehirn von Hilfe zu Hilfe schwingen, musste er auch verwegene Sprünge wagen, damit er wieder Fuß fassen konnte im Wirklichen. Diese Sprünge waren Schlüsse, Mutmaßungen, Vermutungen. Schmidt kam sich vor wie ein Affe, kopfunter. Die Bilder waren verkehrt oder passten nicht oder sie förderten eine andere Schlussfolgerung. Die Auflösungsprozesse griffen vor allem jene Begebenheiten an, die mit seinem Gefühl im Konflikt standen. Die Veränderung der Beziehung zu einer Person rechtfertigte also für das Gehirn eine Korrektur der Registratur und des Datenbestandes. Wie er nun sah, hieß das aber nicht, dass die Eindrücke für immer verloren sein mussten. Mal mit einer Hand und einem Fuß nach einem Haltepunkt im Archiv des Lebens greifend, mal nur an einem dürren Strick hängend, in Seitenlage oder kopfüber. Und wenn er so weiterhetzte durch den Wald, schutzlos ins Nichts einer Annahme sprang, so wuchsen in Sekundenschnelle neue Äste, Zweige, Schlingpflanzen und gedrehte Luftwurzeln seiner Erinnerung in das Nichts, in das er eindrang.
    Schmidt beschäftigte die Methodik der Datenkompression. Die meisten Begebenheiten, nach denen er bei der Forschung nach seinem Stiefvater suchte, waren nicht mehr in ihren Einzelheiten abrufbar. Sie waren reduziert auf eine Stimmung oder eine Sinneswahrnehmung, die sie repräsentierte. Er schärfte seine Sinnesorgane, zwang sich, konkrete Töne heraufzubeschwören, die Stimme seines Stiefvaters vor zwanzig Jahren, bestimmte Gerüche, den Geruch seiner derben Janker, den Geruch seines Halses in den seltenen Momenten, in denen er ihn für eine Umarmung an sich gezogen hatte, oder der Geruch in ihrem Volkswagen auf ihren Urlaubsfahrten nach Italien in glühender Hitze, das Parfum seiner Mutter, den Geschmack seiner Kindheit, den sonntäglichen Schweinebraten, ein heftiger Familienstreit, der erste Zigarrenstummel, den er aus dem Aschenbecher gefischt hatte. Er fand heraus, welch mächtige Agenten die sinnlichen Empfindungen waren. Wie ein Geruch, herausgelöst aus den Milliarden olfaktorischen Impressionen eines Lebens und wiederbelebt zu einer das Herz zusammenziehenden Nähe, ganze Fluten von umliegenden Wahrnehmungen entfesseln konnte. Mit einem Mal brachen sie über ihn herein, die Menge

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