Der Mantel - Roman
je in Regine gedrungen mit bohrenden Fragen, Vorwürfen? Hatte er gar angenommen, es sei nicht sein Recht, sie zu quälen? Hatte er die Befürchtung gehabt, den Strahlenkranz ihrer Schönheit zu zerstören durch die Offenlegung eines ganz trivialen Verrats? Vier Monate nach der Eheschließung war Ulrich zur Welt gekommen. Er war Anlass gewesen für die Eheschließung zu diesem Zeitpunkt. Er sollte nicht außerehelich zur Welt kommen. Aber ehelich war er trotzdem nicht, dachte er bitter.
Die Fragen über das Wesen seines Stiefvaters erhitzten seinen Kopf, der, ungeschützt und leicht geneigt, regungslos dem stürmenden Wetter ausgesetzt war. Erst als er die Perlenschnur der Tropfen, die sich ihren Weg zu seinem Hals durch die Falten um seinen Mund suchten, flüchtig mit der Zunge unterbrach, wurde ihm bewusst, dass er weinte. Das Salz auf seiner Zunge, Zeichen seiner Lebendigkeit, die sich während des Begräbnisses in seinen tiefsten Winkel zurückgezogen hatte. Im Dunkeln leuchtete der Name seines Vaters in seinen Goldlettern nur noch schwach.
Die größte Offenbarung ist die Stille , das hatte seine Mutter ihrem Mann nachgerufen.
Das war schön. Und so wahr, dachte er. Der Verstorbene hatte den Satz auf seine Weise gelebt. Warum, fragte sich Schmidt, war er sich so sicher, dass sein Vater die Wahrheit gekannt hatte? Und warum war er so überzeugt davon, dass Karl die Wahrheit nie gegenüber seiner Frau zur Sprache gebracht hatte? Sonst hätte er Tomas´ unmöglich in seinem Haus bei ihren abendlichen Veranstaltungen dulden können. Nicht nach einem offenen Eklat mit Regine. Dann wäre er ein Gedemütigter, ein ewiger Verlierer gewesen – und das konnte er nicht sein. Dazu war sein Vater zu aufrecht gewesen und die Liebe zu seiner Frau, jedenfalls in den goldenen Jahren, zu vital. Er musste eine Unversehrtheit des Herzens besessen haben. Eine festgefügte Welt von Werten, die so unnachgiebig und unbestechlich, so selbstverpflichtet war, dass er die Zerrissenheit der von ihm geliebten Person respektieren konnte, ohne zu strafen oder zu hassen. Er konnte seine Reinheit des Gefühls bewahren, indem er verzieh.
Shiva stieß Schmidt mit der Schnauze an. Der schreckte aus seinen Gedanken auf und beugte sich zu dem Hund hinunter. Er nahm die Hand aus der Manteltasche und fuhr seinem Gefährten durch das nasskalte Fell. »Oh Gott, ja, du musst richtig leiden! Verzeih!«, murmelte er, als der Hund sich an ihn schmiegte. Mit der anderen Hand wischte er sich durch das Gesicht, verrieb nachlässig Novemberregen und erkaltende Tränen. Dann trotteten die beiden dem schwach beleuchteten, furchteinflößenden Haupteingang des Friedhofs entgegen. Schmidt würde Shiva nicht nur mit der Wärme der Wohnung belohnen, sondern auch mit zwei Schweineohren. Da sie stanken, gab es sie nur als besondere Auszeichnung. Heute hatte der im tropenheißen Goa aufgewachsene Hund sie so verdient wie kaum zuvor.
***
Schmidt unterbricht das Graben und richtet sich auf. Wieder biegt er den steif gewordenen Rücken gerade, Stück für Stück. Ist es nicht seltsam, denkt er, meinen Vater habe ich ein Leben lang als Instanz wahrgenommen. Ich habe ihn geachtet, gelegentlich gefürchtet, aber nie geliebt. Sein Tod war ein Ereignis, das mich lediglich an Verlust erinnerte. Und an die Leere, wenn Verlust zum großen Schmerz wird. Wenn er nur anerkannt wird. Erst als mir mein Vater als solcher genommen wurde, verlor ich ihn wirklich und erkannte ihn gleichzeitig das erste Mal als liebenden, leidenden Menschen. Und nun stehe ich hier in einer feuchten Grube und grabe die letzte Schlafstatt für meinen Hund. Shiva, den ich nicht gesucht oder gewollt hatte und der mein Leben verändert hat. Der nun tot in einem alten Seesack liegt und dessen Tod mich ebenso aus der Bahn wirft, wie es dessen Leben vermocht hat. Shiva, der Schöne, der Starke. Der Herr über alles Werdende und dessen Vergehen, der vernichten kann, der Herr über das Leben. Schmidt kneift die Augen zusammen. Er will nicht weinen. Nicht hier. Und nicht jetzt. Er hat schon bei Shivas Tod genug geheult. Fest packt er den Spaten und zwingt sich erneut, die widerspenstige Erde mit heftigen Stichen zu lockern, um sie weiter ausheben zu können.
***
Damals, vor fünf Jahren, nach dem Tod von Karl, war er fast jeden Tag zu seinem Grab gegangen, in seinen mittäglichen Pausen oder nach Einbruch der Dunkelheit, bevor sie den Friedhof schlossen. Es hatte irgendwann richtigen Ärger gegeben, als ein
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