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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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Rolle er aus den Büchern der Jahrhundertwende wiederzuerkennen glaubte.
    Nein, Karl hatte seine Vaterrolle korrekt gespielt. Ein Vorbild an Geradlinigkeit, an Pflichterfüllung, an Fairness. »Bedenkt, dass ihr nur tut, was ihr auch selbst erleiden wollt.« Sakrilegien waren Unpünktlichkeit, mangelnde Genauigkeit. »Pünktlichkeit ist eine Frage des Respekts und äußere und innere Disziplin sind die beiden Seiten derselben Medaille.« Immer dieser belehrende Tonfall. Und doch waren diese Vatersätze eingesickert wie Wassertropfen in einen trockenen Schwamm. Nach kurzem Widerstand, da die Belehrungen nicht kindgemäß waren, hatten beide Söhne sie aufgenommen. Obwohl so vieles für Schmidt völlig anders war, waren diese Sätze doch Gesetz für ihn geworden. Schlicht nicht auf sich angewendet hatte er Sätze wie: »Statt Hölderlin zu lesen, solltest du dich mehr mit den Naturwissenschaften befassen. Oder wenigstens große Biographien lesen.« Er bekam Bücher über Adenauer, Churchill, aber auch Bismarck, Stalin und vieles mehr. Bismarck fand er besonders spannend und Wallenstein. Das schränkte aber seine Hölderlinlektüre nicht ein. Nun wusste er, dass er auf den leiblichen Vater herauskam, den tschechischen Schwärmer. »Du solltest nicht in die musischen Berufe streben. Du hast eine ohnehin ungezügelte Neigung dorthin. Das Erbgut deiner Mutter. Studiere etwas Reales, wo du deine sprachlichen Stärken zur Geltung bringen kannst. Vielleicht nimmst du Jura.« Das war kurz vor dem Abitur. Nun verstand er es besser. Damals war er empört über diese Fehleinschätzung gewesen. Er wollte schreiben, Literatur, konnte sich allenfalls vorstellen, Wissenschaftsjournalist zu werden. Vielleicht mit Themen der Geschichte, vielleicht auch Literaturkritiker. Jura? Paragraphengebäude, logische Kettensätze – wie konnte Karl ihm das zumuten?
    Doch Karl hatte sich durchgesetzt, ihm das Studium finanziert. Er hatte ihn auf den rechten Weg gebracht. Den Weg hin zu einem disziplinierten, selbstbeherrschten Erfüller seiner Aufgaben und Pflichten. So wie Franz, seinen leiblichen Sohn. Und er hatte gesehen, dachte Schmidt, dass Franz der gestellten Aufgabe gewachsen, dass er für sie vorbestimmt war. Wie eine Kugel, die das Rohr verlässt. Jeder Millimeter so geschaffen, dass er die von der Rohrlänge und der Fräsung vorgegebene Geschwindigkeit, Rotation und Richtung erreichen würde. Und so wusste Karl auch, dass er noch so feilen konnte – er, Ulrich, war von anderer Machart. Er würde kaum durch den Lauf passen und nicht den preußischen Drill annehmen. Er würde, kaum abgeschossen, eine völlig andere, eigene Flugbahn suchen. Und doch hatte Karl ihn gefördert, hatte seine Eignungsmängel für den vorgesehenen Weg zu optimieren versucht.
    Es war Stolz in seiner Stimme, wenn Karl sagte: »Der Franz geht seinen Weg.« Schmidt fragte sich, ob er das je über ihn gesagt hätte. Er konnte sich nur an jenes »Ulrich bemüht sich aufrichtig« erinnern, sicher ein Lob in den Augen seines Vaters. Wusste er also um die fremde Wurzel, die diesen Spross so anders hatte werden lassen – er musste gefragt haben, wer der richtige Erzeuger war. Und es konnte ihm nicht verborgen geblieben sein, welche Begeisterung seine Frau in Anwesenheit von Tomas´ entwickelte. Wie leidenschaftlich gern sie in die Oper ging und wie zentral hinter jedem Vorhang, in jeder Kulisse der junge Publikumsliebling erschien. Wie hatte er das ertragen können, und wie die Auftritte des Zerstörers seines Glücks in seinem Haus? Wie konnte er Regine lieben? Die wunderschöne dunkle Muse, zierlich, zerbrechlich und doch so hart und unbeirrt auf ihrem Weg. Karl musste gelitten haben. Ulrich Schmidt wusste, sein Stiefvater hatte seine Frau vergöttert. Sie war und besaß alles, was er nicht sein konnte und nie besitzen würde: Vielseitigkeit, Feinsinnigkeit, Sprunghaftigkeit, eine schillernde Strahlkraft in der Gesellschaft, musische Gaben, Schönheit und Abgründe.
    Das alles hatte Karl nicht. Er war jung, kurz nach Kriegsende aus dem Osten nach München gekommen. Und er hatte in seiner Frau alles gesehen und gefunden, was er in sich und in seinem Leben nicht fand. Hatte er vielleicht sogar den Nebenbuhler, den er in ihrer Nähe duldete, als Teil dessen gesehen, was das andere ausmachte? Den Schmerz des Verlustes, des Nichtbesitzen-dürfens als Schattenseite seiner preußischen Pflicht? Und die Unzuverlässigkeit als notwendiges Element der musischen Natur? War er

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