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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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all dessen, was der Kompression zum Opfer gefallen war.
    Der Schlaf ließ keine Zeit, chronologisch zu erzählen. Er huschte wahllos über das irre, verlassene Lager der Taten und Niederlagen. So fügte er scheinbar sinnentleert aneinander, was uns hier und da widerfahren ist, ja er fügte hinzu, was uns hätte widerfahren können und was wir darum so sehr gefürchtet hatten. Dieses Irrlichtern vollbrachte der Schlaf, allnächtlich und größtenteils unbemerkt. Die Nacht, der Schlaf putzten regelmäßig das stumpfe Silber unserer eingemotteten Erlebnisse. Sie verwendeten dazu die Kunst des Irrealen, Surrealen. Rastlos tobten sie durch das Arsenal der blinden Spiegel und funkelten diese schlaglichtartig an. Nur die heftigsten Begegnungen mit den Spiegeln des Schreckens ließen uns auffahren oder am nächsten Morgen nach der Ursache für ein zerschlagenes Unwohlsein suchen. Und doch stand damit fest, dass unendlich viele Impressionen und auch anekdotische Miniaturen in uns ruhen, blind und fahl, jede jederzeit erweckbar zu wiedergekehrtem Leben.
    Und der Prozess der Reduktion? Eliminierte der Geist, den wir nach unseren eigenen Erfindungen nun als Computer, als Rechenwerkzeuge entlarvt haben, das Beiwerk, Randbegebenheiten einer Situation, bis langsam auch sie selbst verschwand und einer These, einer Feststellung über einen Zustand wich? Schmidt hatte in seiner Zeit als Soldat in den Bergen viel über Lawinen gelernt. Am Anfang stand das Schneekristall. So wie ein frisches Erlebnis. Voller Einzeleindrücke, Farben, Gerüche, Geschmäcker, wesenloser Empfindungen und Bilder. Wie ein Schneekristall, wunderbar filigran, feinst verästelt in immer delikatere Substrukturen und Abzweigungen. In seiner Vollständigkeit ein Wunderwerk, mathematisch präzise und dreidimensional. Doch dann kam die Wärme, die feinen Strukturen, die feenhaft zarten Verstrebungen verfielen, verkürzten sich zu Klumpen, verdichteten sich. So musste die Datenkompression des Gehirns arbeiten. Abschmelzen, unerbittlich, Jahr für Jahr die Arme der Ereignisse abschmelzend, löschend, um Neues zu verankern. So verloren die Dinge langsam die Farbe und den Glanz. Sie wurden stumpf und konnten nun einem neuen Speicher zugeführt werden. Wie die Schneekristalle, die bei fortschreitender Verkürzung ihrer ehemaligen Verästelung mit anderen Kristallen zu einem Körper verbunden wurden. Bis schließlich achteckige, sich verjüngende Trichter, sogenannte Becherkristalle entstanden, eine völlig neue Struktur, ohne verbindende Arme. Nur noch ein Splitt, der reißen und rutschen konnte.
    Ganz so kam es Schmidt vor, was sich da im Gehirn abspielte. Die einzelnen Ereignisse verloren ihre Identität, ihre Gestalt in der Datenschmelze. Dann wurden sie, machtlos und zu einem summarischen Eindruck verkrüppelt, mit anderen ähnlichen Eindrücken zusammengefügt. Was blieb, war eben eine solche Splitterstrecke des autobiographischen Stroms. Und auf ihm rutschten neue, feingliedrige Eindrücke ab. Denn sie hatten keine Haltepunkte, wie es die Arme der Eiskristalle waren, sondern fielen auf eine gefestigte Meinung.
    Die Erinnerung, die Rekonstruktion der spinnwebfeinen Strukturen aus dem Einerlei war eine zähe Angelegenheit. Nur widerwillig lässt sich dem Gehirn Abgelegtes oder in die tiefen Schächte Verbrachtes entreißen. Und Schmidt erkannte, dass eine weitere Gefahr lauerte: die der Suche mit einer bestimmten Tendenz. Diente die Suche der Findung der Wahrheit über seinen Stiefvater oder über die Beziehungen zwischen den drei, wie er meinte, leise ringenden Elternteilen oder diente sie dem nachträglichen Beleg einer intensiven Beziehung zwischen ihm und seinem Stiefvater? Suchte er Beweise für eine solche unentdeckte Tiefe, so würde er sie finden. Zu einfallsreich, zu nachgiebig war das Rechenzentrum, als dass es das nicht auch hätte liefern können. Genau darum ist das Gehirn eben mehr als ein Rechenzentrum, dachte Schmidt, es würde scheinbare Wahrhaftigkeit für bestimmte Begebenheiten erschaffen, die tatsächlich anders verlaufen sein mochten. Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen waren eben auch Filter, die vermeintlich eindeutig so Erlebtes färbten, ja gar neue Begebenheiten erzeugten. Was war dann das wahrhaft Erinnerte, das wirklich Wiederentdeckte und das zweifellos Authentische? Eine subjektive Komposition von Geschichte, wie sie hätte sein mögen – wie sie recht gut hätte gewesen sein können?
    Hätte es eines Belegs bedurft, musste er

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