Der Mantel - Roman
sich nur an seine Dispute mit seiner Frau Bettina erinnern.
»Du hast Shiva wieder eingesperrt!«
»Deswegen hast du mich gestern schon angebrüllt. Dabei habe ich die Türe geschlossen, weil es zog. Dass er drin war, wusste ich nicht.«
»Ich glaube dir kein Wort. Du hättest ruhig einen Blick in den Raum werfen können, er hat keine Tarnkappe. Und außerdem habe ich nicht gebrüllt!«
»Du hast gebrüllt. Wie du es immer tust, wenn es um dieses indische Untier geht!«
»Ich habe dich noch nie in unserer Beziehung angebrüllt. Aber ich könnte es bald tun, wenn du den Hund nicht in Ruhe lässt.«
So oder ähnlich, immer wieder, was zeigte, dass Bettina keine Hunde mochte – auf jeden Fall den einen nicht, und dass es keine objektive Sachverhaltsschilderung gab. Nur Perspektiven, subjektive Ansichten. In der letzten Phase seiner Ehe nur noch durch Sehschlitze und Schießscharten gesammelt. Hatte nicht sogar die moderne Physik spätestens seit Heisenberg und Schrödinger bewiesen, dass es keine objektive Wahrnehmung gibt, dass auch der Betrachter Teil des betrachteten Vorgangs ist?
In der klirrenden Kälte, bei Schneetreiben vor dem Grabstein stehend, neben sich den wie aus Stein gemeißelten Shiva, grub er immer mehr Details aus. Er fragte sich immer wieder, wie er die spät entdeckte Liebe des Vaters hatte übersehen können. Was war sie wirklich gewesen, Agape, Inbegriff der christlichen Nächstenliebe, preußische Erfüllung einer aufgegebenen Pflicht oder eine übertragene Liebe für das Kind der Frau, die er abgöttisch verehrte? Und was er wann wusste, wie er Tomas´ begegnet war – den er irgendwann durchschaut haben musste. Wie er der zerstörerischen Wirkung des Verrats, als er ihn begriffen hatte, begegnet sein mochte.
In diesen kalten Wintertagen begann Schmidt, sich selbst neu zu sehen. Da die Beschäftigung mit sich selbst nur bedeutungsvoll sein kann, wenn sie ehrlich ist, musste sie wehtun. Schmidt hatte es sich früh zur Regel gemacht, Konfrontationen zu vermeiden. Er zog es vor, Risiken zu umgehen, statt Enttäuschung und Schmerz in Kauf zu nehmen. Nun war er dort angekommen. Im Epizentrum des Dramas seiner Existenz. Und weil die Frage seiner Herkunft, seiner Gene und seiner Verantwortung in der Welt unaufschiebbar und hautnah an ihn herangetreten war, nahm er sie an. Mit der Frage, wie viel er von seinem leiblichen Vater geerbt haben mochte.
Er hatte eine Vorstellung von der Person, eine Erinnerung an Einzelheiten und kurze Begegnungen, aber was war das schon? Und er wusste aus tiefstem Herzen, dass er den nun über 70-jährigen nicht sehen wollte. Die Vorstellung eines Treffens – »Guten Tag, Vater. Wie gut, dass wir nun offen zueinanderfinden können!« – ließ ihn im kalten Winter am Grab von Karl fieberheiß werden. Nein, diese Begegnung würde es nicht geben. Der Wind trug sein gemurmeltes »Auf keinen Fall. Das verspreche ich dir« fort. Nur Shiva hob den Kopf und schaute ihn fragend an.
Lange hatte er sich nicht in der Verfassung gefühlt, das notwendige Gespräch mit seiner Mutter zu führen. Ein unerklärlicher Groll gegen sie hielt ihn ab. Sie hatte ihn nach dem Begräbnis mehrfach angerufen und nach seinem Befinden gefragt. Er blieb einsilbig. Er hatte hier, zwischen den ins Grab mitgenommenen Geheimnissen so vieler Verstorbener, Partei ergriffen. Er hatte sie alle gehört, die geflüsterten Enthüllungen, die posthum statt der letzten Grüße auf den unvermeidlichen Kränzen in die frisch aufgeschüttete Erde eindrangen. Und er hatte das mächtige Schweigen Tag für Tag still in sich aufgenommen, mit dem die Gegangenen all dem begegneten. Die Friedhofsmauern, die Rituale, die mächtigen Portale mit ihren ewigkeitsträchtigen Sinnsätzen konnten sie nicht abschirmen. Nur ihre Stille, die Macht ihrer Abwesenheit von allem, was diese Welt bewegt, konnte es.
Schmidt teilte die schwarzen, herumhuschenden Gestalten, die immer wieder kamen, um die Gräber der Ihren zu pflegen und zu beten, in zwei Gruppen ein. Häufiger waren die, die ein loses Band mit den Verstorbenen knüpfen wollten. Viele von ihnen kamen bestimmt aus Schuldbewusstsein. Weil sie ein Unrecht gegenüber dem Toten begangen hatten. Zu dessen Lebenszeit mochte es sich auskömmlich angefühlt haben. Vielleicht hatten sie das begangene Unrecht sogar genossen, aus Wut, aus Hass, weil sie meinten, dafür eine moralische Berechtigung zu haben. Der nun Tote hatte es so verdient, er hatte sie verletzt, oder er hatte
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