Der Mantel - Roman
einfach nur im Weg gestanden auf dem Pfad zu einem Ziel, das wichtig genug erschien, ihn dafür zu verletzen. Dann kam der Tod, jäh und ohne Rücksicht auf unerledigte Geschäfte. Er schnitt durch die vielzähligen Bande, die sie miteinander verbunden hatten. Alles, was ohnehin einer menschlichen Pflicht zu Lebzeiten entsprochen hätte, türmte sich nach dem Tod als riesige Unterlassung auf. Der Besuch des Verstorbenen, der unterblieben war, wurde zum quälenden Versäumnis. Die lange unterbliebene Hilfe oder Unterstützung, ein nicht aufgelöster Streit – all das wurde posthum für die Hinterbliebenen zur nicht nachholbaren menschlichen Leistung. Das Schuldbewusstsein, der nagende unheilbare Vorwurf trieb sie alle an die Gräber. Als würde der Friedhofsbesuch, die Grabpflege den Toten mit dem Versäumnis versöhnen.
Dieser Gruppe rechnete sich auch Schmidt zu. Als hätte er einen Dialog versäumt, dessen wahren Inhalt er doch nicht kennen konnte. Und doch warf er sich vor, die menschliche Größe seines Stiefvaters nicht erkannt zu haben. Den Kern dieser Vater-Sohn-Beziehung hatte er nicht gesehen. Und es kam ihm wie so vielen anderen regelmäßigen Besuchern so vor, als könne er die verpasste Beziehung nur hier pflegen.
Die zweite Gruppe des Stammpublikums waren jene Alten, die sich auf den Tod vorbereiteten. Denen der aufgeregte Zirkus des normalen Lebens nichts mehr sagte. Sie wollten mit denen sein, die vorweg gegangen waren und auf sie warteten. Um sie zu sein und die stille Atmosphäre ihrer Wohnstatt zu erfahren, war ihnen Beruhigung und Bestätigung. Sie waren auch nicht traurig, nicht schuldbewusst oder betroffen. Sie wussten sich zu Hause und rückten jeden Tag vor, beharrlich im Wartestand wie die Alten in den Sterbehäusern in Varanasi, die die Holzscheite für ihre Feuerbestattung schon bezahlt hatten.
Er dachte an die Zeilen von Hermann Hesse: »Einschlafen dürfen, wenn man müde ist. Die Last fallen lassen können, die man lange getragen hat, das ist eine tröstliche, eine wunderbare Sache.«
An einem jener halbbelichteten Nachmittage im Januar hatte Schmidt die Sehnsucht nach dem Sein hinter den letzten Mauern verstanden. Auf seinem Weg zum Grab war eine alte Frau unsicheren Schrittes vor ihm hergegangen. Ihr Körper war dünn, ausgetrocknet, ihre dunkle Kleidung hing in weiten Falten an ihr herunter. Sie ging jedoch aufgerichtet und steif, ungebrochen. Plötzlich rutschte sie aus und Schmidt sprang bei, um ihren Sturz aufzufangen. Er erschrak, wie federleicht sie war. Leicht wie ein Vogel. Es bereitete ihm keine Mühe, den mageren Rumpf aufzurichten, den die Beine kaum mehr tragen wollten. Ihr strenges Gesicht wandte sich ihm ohne Überraschung zu. Sie lächelte leicht mit welken, schmalen Lippen. Ihre kühlen tiefliegenden Augen fixierten ihn, grün und klar: »Danke.« Ihre Stimme war rau und ungeübt, als spräche sie nicht viel: »Sie sind oft hier.«
Ihm fiel keine Erwiderung ein.
»Sie gehören hier nicht her.« Und nach einer kurzen Pause mit einem Blick auf Shiva fügte sie an: »So wenig wie Ihr Hund.« Es war eine schlichte Feststellung, kein Vorwurf. Während sie mit wenigen Griffen ihren bei der Rettung verrutschten Mantel richtete, fragte er: »Was meinen Sie damit?«
»Sie werden das, was Sie verstehen wollen, nur da draußen«, ihre Hand wies in einem kleinen Handkreis auf die Welt vor den Friedhofsmauern, »herausfinden.«
»Und Sie?«, fragte er, um ihre Weissagungen abzubiegen.
»Ich bin schon hier. Meine Seele spannt die Flügel aus. Sie fliegt nach Haus.«
Schmidt erkannte die Anspielung auf Eichendorff und antwortete: »Hätte ich Sie dann nicht auffangen sollen?«
Die alte Frau behielt jedoch ihre Form bei: »Wir fliehen die Form des Todes, nicht den Tod«, zitierte sie weiter. Schmidt wusste, dass der Klinger’sche Text mit »denn unser höchsten Wünsche Ziel ist: Tod« endete. Darum sagte er freundlich: »Leben Sie wohl. Und passen Sie auf sich auf.« Das schien ihm die passende Antwort aus der Welt des Lebens. Und doch hatte er etwas mitgenommen von der unbehaglichen Begegnung. Er musste endlich seine Mutter treffen. Er würde die Aussprache nicht mehr weiter aufschieben. Die Alte hatte recht, was immer sie aus der Schattenwelt für ihn herausgelesen hatte.
Die Vereinbarung des Treffens verlief umständlich. Es türmten sich seitens seiner Mutter Verabredungen mit Freundinnen und Veranstaltungen der Opernfreunde. Dann war das Wetter im Weg, obgleich er
Weitere Kostenlose Bücher