Der Mantel - Roman
noch wollte. Vielleicht könnte er es nicht einmal.« Ihre Tränen rollten glitzernd die Wangen herunter. Kein Laut entwich ihr. Nur die Tränen. Schmidt war kurz versucht, herüberzukommen und sie tröstend in den Arm zu nehmen. Aber er brachte es nicht fertig. So wie er für das auseinanderfallende Puzzle seines Lebens nicht ihre Unterstützung in Anspruch nehmen wollte. Nein, er konnte sie auch nicht trösten. Sie hatte versucht, aus ihrer Situation das Beste zu machen. Und hatte für diese Rücksichtnahme einen hohen Preis bezahlt. Und er war sich seiner Gefühle nicht klar, war er wirklich eifersüchtig? Ertrug er nicht, dass seine Mutter seinen leiblichen Vater noch immer liebte? Den Eindringling, der sich in günstiger Stunde eingeschlichen hatte. Der ihm kein Vater war. Der vielmehr seinen Vater hintergangen hatte. Was sollte er an ihm bewundern? Worauf soll stolz sein? Dass er seine hoch gesteckten Ziele nicht erreicht hat, er immer noch hier ist und nicht in der Met. Eigentlich waren sie sich ja ähnlich, auch darin, dass er keine glückliche Beziehung führen konnte. Und vielleicht noch, dass er keine Entscheidung fällen kann, dass er ein konfliktscheuer Mensch ist. Darin auch.
***
Plötzlich bleibt der Spaten stecken, ein metallischer Klang reißt ihn aus seinen Gedanken. Die rechte Hand schmerzt bei dem unerwarteten Widerstand. Er kratzt die Erde beiseite, um zu sehen, was dem Spatenblatt widerstand. Ein glänzender Gegenstand schimmert im Licht des Streichholzes, das er entzündet. Er beugt sich herunter, greift in den Aushub und fasst einen kalten Gegenstand an. Er zieht ihn aus dem Boden, neugierig und unsicher zugleich. Ein Sturmfeuerzeug, verdreckt und verrostet. Er wirft es in weitem Bogen in die Regennacht. Er nimmt wieder Maß. »Gut die Hälfte«, murmelt er vor sich hin. Mehr als das Spatenblatt tief steht er in dem Loch, das Shiva schließlich aufnehmen soll. Er kramt ein Zigarillo aus der Manteltasche und entzündet es. Der Regen hat fast aufgehört. Der Boden dampft. Es ist so still, denkt er. Die Ruhe tut ihm gut. Sie ist erhaben. Mitten in der Stadt und doch vollkommen allein mit seinem toten Hund.
Er wirft einen Blick auf den durchnässten Seesack. Da liegt der einzige Kerl, der nie zurückwich, ein Held, denkt er. Alle anderen, die er getroffen hatte, waren irgendwann eingeknickt. Nur dieser Hund hätte ihn um jeden Preis verteidigt. Bis zu seinem letzten Atemzug. Bei Menschen muss man nur lange genug warten, dann offenbaren sie furchtbare Glaubwürdigkeitslücken. Seine Hand fährt unwillkürlich über die Erhebung des nassen Leinens, unter der er die Hüften des Hundes vermutet. Nur leicht, als wolle er sich versichern, dass Shivas physische Form noch erhalten ist. Er übt keinen Druck aus, als ob er ihn nicht in seinem ewigen Schlaf stören wolle. Die Hand wird noch nasser, der Stoff des Sackes fühlt sich nicht mehr rau an, sondern fast glitschig. Er zieht sie verunsichert zurück. Bloß nicht sentimental werden jetzt. Arbeite weiter, mahnt es in ihm. Du hast noch genug vor dir, und die Nacht verrinnt, wie die Regenmassen im Waldboden versickern, wie die Erinnerungen aufperlen und dann in die Dunkelkammer des großen Speicherraums zurückfließen. Nein, Karl war auch ein Held. Oder was auch immer es ist. Ein Standhafter, einer, der treu und unbeirrbar bleibt. Wie Shiva, der da kalt auf seinem Lieblingsplatz liegt. Er stöhnt leise, als er den Spatenstiel wieder greift mit erlahmenden Händen und den Oberkörper zum nächsten Stich vorbeugt. Nun tut alles weh, die Handwurzelknochen, die Knöchelgelenke der Innenhand, die Fußballen von den Tritten auf das Spatenblatt und vor allem der Rücken. Da hilft nur schnelles Arbeiten, versucht er sich aufzumuntern, um der aufkommenden Müdigkeit und dem Selbstmitleid zu entrinnen.
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Den tiefgreifenden Veränderungen seines Seelenlebens nach dem Tod des Vaters mit seinen entwurzelnden Begleiterscheinungen waren zwei, drei Jahre ohne große Ereignisse gefolgt. Er hatte sich, soweit es ihm möglich war, in seine Arbeit gestürzt. Er musste seinen Lebensunterhalt verdienen und wollte seine Friedhofsroutine endgültig hinter sich lassen. Er nahm an Fortbildungsveranstaltungen teil und tauschte sich häufig mit Kollegen in den Gerichtsgebäuden oder den umliegenden Kneipen und Cafés aus. Für manche hatte er fast Berühmtheit erlangt durch ein Verfahren, das er wider besseren Wissens für seine Mutter geführt hatte. Er hatte ihr diesen
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