Der Mantel - Roman
eingeordnet, dass er in ihr nichts außer ihrer allgegenwärtigen Stabilisierungsfunktion für ihn sehen konnte?
Dass sie irgendwann auch einen Teil seiner Anwaltsarbeit übernahm, besorgte ihn nur kurz. Die intensiven Frauengespräche, die die Graseder manchmal sogar in seinem Wohnzimmer auf der Couch führte, verschafften ihm den Ruf eines sensiblen Scheidungsanwalts für Frauen mit einem umfassenden Betreuungsansatz. Durch solche Empfehlungen war auch Mathias Wimmer zu ihm gelangt. Spross einer uralten Münchner Familie, alleinstehend, leicht wirr und trotz seiner nunmehr fünfzig Lebensjahre ohne echte berufliche Herausforderung. Er kam mit einem heiklen Anliegen. Es ging um eine Auseinandersetzung mit der Haushälterin seiner verstorbenen Mutter und das Verhältnis, das die beiden Frauen miteinander gehabt hatten. Wimmer fragte sich, ob seine Mutter am Ende eine Lesbierin war, die in hohem Alter ein liebevolles Verhältnis zu einer Haushälterin aufgebaut hatte, oder war die alte Dame von einer verschlagenen und räuberischen Erbschleicherin manipuliert und betrogen worden? Letzteres jedenfalls war seine Sicht der Dinge. Der Prozess, nein die Serie von Verfahren, sollte diese Frage vor aller Christenheit endgültig klären. Vor fünfzehn Jahren hatte der Sohn die Nähe zur Mutter schrittweise und schleichend verloren. Nicht nur einmal stand er schreiend in Schmidts Altbauwohnung: »Das hätte Mutter nie gewollt. Sie wurde von der Kanaille verhext.« Schwer atmend stützte sich der hünenhafte Mann mit dem verlebten, unkonturierten Gesicht auf Schmidts Schreibtisch. Berge von Briefen hatte er vor ihm aufgetürmt. Briefe voller Verehrung und flehentlicher Suche des Sohnes nach der Mutter. Die abweisenden Antworten lagen auch dabei, die sein Mandant mal einfach umdichtete, mal als Dokumente der teuflischen Manipulation tiefer Mutterliebe entlarvte. Briefe, die mit verschiedenen Buntstiften markiert waren: rote Anstreichungen von Mathias Wimmer für Skandalöses, Unglaubwürdiges, Beweiskräftiges in seinen Augen. Schwarz für Betonung, blau für Bestätigungen seiner Version der Geschichte und grün für sonstige Fakten, die ihm wichtig erschienen. Diese bunten, flammenden Werke lagen nun auf dem Schreibtisch vor Schmidt ausgebreitet. Immerhin hatte er auch Briefe der Haushälterin mitgebracht, voller unterwürfiger Verehrung für ihre Arbeitgeberin. So schienen in den Jahren viele Vermögensgegenstände, Einrichtung und Schmuck in die Hände der zunehmend besten Freundin und Pflegeperson geraten zu sein. Das schlossähnliche Gebäude am südlichen Stadtrand bot genügend Wertgegenstände, die auf die Seite zu schaffen waren. Vorher hatte sein Mandant sein Leben auskömmlich im Kielwasser der Mutter geführt. Diese seltsam symbiotische Beziehung war durch die sich vertiefende Beziehung zwischen den beiden Frauen schlicht gestrandet. Bald musste er ausziehen, und die Haushälterin bezog seine Zimmer. Viel zu lange hatte er ohne ernsthafte berufliche Tätigkeit vom familiären Vermögen gelebt. Bis eben sie, Rita, das Chamäleon, aufgetaucht war. Als Haushälterin eingestellt, hatte sie rasch erkannt, dass die damals weit über sechzigjährige Hausherrin eher so etwas wie eine zeitgenössische Zofe und Intimfreundin brauchte als ihren weltfremden Sohn. Und so hatte sich erst ein Dreieck gebildet, fragil und asymmetrisch, bei dem eine Achse immer fester wurde. Dann fand er Liebesbriefe, voller Sehnsucht und Anbetung der Frauen füreinander. Nach seinem Auszug beschleunigte sich die Vertiefung der außergewöhnlichen Liebe. Wimmer war verzweifelt, hatte Hass auf die neue Machthaberin entwickelt. Aber auch die Liebe zu seiner Mutter hatte ihre Schattenseite entwickelt. Er liebte die, die er davor gekannt hatte, die ihn aufgezogen hatte, ihn mitgenommen hatte auf Capri, nach St. Moritz und an viele andere Orte. Die Liebe zur Mutter war tiefster Missbilligung und Verachtung gewichen.
Schon zu Beginn des Mandats, als die erste dieser emotionalen Entladungen in einem Weinkrampf endete, kam die Graseder herein, murmelte eine Entschuldigung und stellte sich neben den zitternd im Raum stehenden Mann. Sie nahm ihn leicht in den Arm und redete beschwichtigend auf ihn ein. Er nahm die Betreuung an, ohne an der Intervention einer Büroangestellten Anstoß zu nehmen.
Das Mandat stellte den maßvollen Schmidt auf eine schwere Probe. Die bis zu zwanzig Seiten langen Briefe mit den bizarrsten Anlagen von Fotos, die der Mandant
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