Der Mantel - Roman
seine Geschichte zerlegt und konnte ihm dennoch keine neue Gewissheit geben. Sie jagte immer noch ihren Leidenschaften hinterher. Gott, mit bald siebzig Jahren. Wie gesetzt und alt er sich dagegen vorkam.
Als er wieder in die Wohnung kam, hatte sie zwei Kerzen angezündet. Wein stand auf dem Tisch und ein paar belegte Brote daneben. Der Wein war jener Riesling, auf den Karl immer so stolz gewesen war. »Du hast lange gebraucht.«
»Du nicht«, war seine lapidare Erwiderung.
»Hat dir der Spaziergang nicht gutgetan? Du scheinst eine schlechtere Laune als vorher mitzubringen.«
»Ich habe versucht, meine Gedanken zu ordnen. Du hast einen Mann aus Sicherheitsbedürfnis geheiratet. Hast ihm ein Kind untergeschoben. Du bist aber ein leidenschaftlicher Mensch. Du hast einen anderen geliebt. Der hat dich hängenlassen. Trotzdem hast du ihn in dein Leben fest integriert. Vor den Augen deines Mannes. Wie kann man so etwas Berechnendes machen, wenn man doch voll ist von heftiger Emotionalität? Was hast du Karl gesagt, wenn du Tomas´ eingeladen hast?«
»Du stellst viele Fragen. Dir scheinen auf deinem Weg noch mehr eingefallen zu sein. Also gut: Ich wollte Tomas´ weiter sehen. Ich habe ihn auch mit seiner Schwäche geliebt. Aber wir haben nach deiner Geburt eine streng platonische Beziehung geführt. Er war nur gelegentlich bei uns. Und er hat gelitten unter der Entscheidung.«
»Aber warum hast du dann nicht Schluss gemacht, das Band endgültig getrennt?«
»Ich konnte nicht. Und es mag sehr unverständlich klingen, aber ich wollte, dass ihr euch wenigstens gelegentlich seht.«
»Mein Gott«, stöhnte Schmidt, »was in aller Welt sollte das denn bringen?«
»Das kann ich dir heute nicht mehr sagen«, gab sie schlicht zurück. »Es fühlte sich damals für mich richtig an.«
»Ich habe jedenfalls aus diesen Begegnungen keinen Honig saugen können. Ich fand ihn immer zu pathetisch. Aber du hast mir nicht beantwortet, was mein Vater zu Tomas´ Auftritten gesagt hat.«
»Mein Vater?«, machte sie ihn nach. »Karl war da neutral, hegte glaube ich keine heftige Ablehnung. Aber war auch nicht sein Freund. Er ging darüber hinweg, wenn wir in einer größeren Gruppe unterwegs waren. Wenn er den Zusammenhang gekannt haben sollte, hat er sich jedenfalls nichts anmerken lassen, mich nur verstehen lassen, dass er häufige Treffen außerhalb des Freundeskreises der Staatsoper nicht wollte. Ich habe das verstanden und so befolgt.«
»Hast du?«
»Zweifelst du vielleicht an meinen Aussagen?«
»Ich wollte es nur noch einmal hören. Schließlich bin ich das Produkt dieser für mich etwas ungenießbaren Melange.«
»Ich habe dich schon einmal gebeten, dich nicht zum Richter aufzuspielen. Zumal du selbst sagst, dass dir all diese Dinge fern liegen.«
»Das werte ich in dem Zusammenhang als Lob.«
»Bist du denn sicher, dass du solche Dinge nicht gemacht hast, weil dich deine Ethik oder Moral daran gehindert haben, oder war es nur Mangel an Gelegenheit oder … oder Kraftlosigkeit?«
Er schaute sie verblüfft an: »Hoh, jetzt läufst du aber zur Form auf! Ich hätte deine Rolle nicht spielen können. Die Gründe dafür kannst du selbst scheinbar bestens beurteilen.«
»Immerhin ist die Geschichte deiner Ehe mit Bettina wie eine Begegnung ohne Anfang und ohne rechtes Ende.«
***
Schmidt hatte sich damals abgewandt, das war nicht das Thema, weswegen er seine Mutter hatte sprechen wollen. Seine Beziehung zu Bettina endete unspektakulär. Mit Alltagsstreitigkeiten und Entfremdungen. Bis sie einen richtig guten Juristen traf. Ein alter Kommilitone aus ihren Studienzeiten. Schmidt konnte ihr das nicht verübeln. Sie hatte ihm einen schönen Abschiedsbrief geschrieben. Auf ein Lesezeichen in seinem Lieblingsbuch. Ein Lesezeichen mit finaler Botschaft. Irgendwie konturlos. Rein- und rausgeschlittert, ohne große Überschrift.
Plötzlich sieht er, wie der Seesack sich bewegt. Eine Ratte muss hineingeschlüpft sein. Er reißt in rasender Wut den Spaten hoch und schlägt mit dem flachen Blatt auf den Waldboden. Der Schlag klingt dumpf und unterdrückt, wie wenn eine schwere Tür ins Schloss fällt. Nichts regt sich. Er springt aus seinem Grabaushub, rutscht aus und fällt fast auf den nassen Seesack. Er spürt den aufgewölbten Kadaver des Hundes unter sich. Langsam geht er auf die Knie und Hände, richtet sich wieder auf. Er versucht, den Sack an den hinteren Enden anzuheben und zu schütteln. Er will nicht, dass Shivas toter
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