Der Mantel - Roman
unversöhnlich sein Ende. Schmidt schaut erneut in die Nacht, sucht alle Richtungen nach Zeugen seines Tuns ab. Nichts, er kann weitermachen. Ein Frösteln kriecht von den Unterschenkeln in den Stiefeln hoch, er spürt nun überall den Feuchtigkeitsfilm. Rasch arbeiten, um das leise Zittern abzuschütteln. Der erste Stich des Spatens alarmiert seinen geschundenen Fußballen ebenso wie die Hände. Er spürt das Brennen in der Handfläche.
***
Ja, seitdem Mathias Wimmer aufgetaucht war, gab er der Kanzlei Leben und Sinn. Psychodrama, modernes Märchen, Wahn und Wirklichkeit, jede Menge Fragen rein praktischer, aber auch juristischer Natur – und das alles wirklich auf Heller und Pfennig bezahlt. Wimmer hätte gern noch mehr Komplexität geschaffen, Detektive beauftragt und Ähnliches. Die Testamentsanfechtung, das war ein zentraler Punkt für Wimmer. Wegen der letztwilligen Verfügungen, aber auch wegen der ungeheuerlichen Liebeserklärung, die das Testament enthielt: »Rita, mein Herz, du hast mein Leben mit Licht erfüllt, du warst mir Tochter, Gefährtin, Geliebte meiner Seele.« Schmidt konnte das »Schandtestament«, wie Wimmer es nannte, bald auswendig hersagen.
Die Graseder musste wegen des neuen Mandanten häufiger länger in der Kanzlei bleiben, als es ihr Dreißig-Stunden-Vertrag vorgesehen hatte. So kam es, dass ihr Sohn Fabian sie hin und wieder abholte. Schmidt hatte sich nie um ihr Privatleben gekümmert. Die Wahrung der Distanz war während seiner Ehe mit Bettina strengste Pflicht – als sie fort war, hatte sich nichts daran geändert.
Der Junge mochte elf Jahre alt sein, für sein Alter groß gewachsen, schlacksig mit struppigen dunklen Haaren, die ein klares, kräftig gezeichnetes Gesicht umrahmten, die blauen Augen schauten konzentriert und bestimmt. Die Intensität des Jungen fiel ihm gleich auf, er mochte den ungewöhnlichen Burschen sofort. Als hätte er schon viel von ihm gehört, sprach er den still im Flur der Wohnung Wartenden an: »Du bist also der Sohn?«
Der erwiderte mit ernstem Blick: »Ich heiße Fabian. Fabian Graseder.«
Die Mutter hatte den Dialog gehört und rief aus ihrem Bürozimmer: »Ich komme schon, Fabian, gleich. Herr Schmidt, ich bin morgen mit dem Diktat fertig. Ist das in Ordnung?«
Schmidt ging die wenigen Schritte zu ihrem Zimmer: »Justitia wird lange brauchen, wenn sie im Fall Wimmer überhaupt eingreifen will. Machen Sie Schluss für heute.«
Der Junge war ihm nachgekommen: »Darf ich fragen, wo der Hund ist, von dem meine Mutter mir immer erzählt?«
Schmidt drehte sich überrascht um: »Der Hund? Shiva ist in meinem Arbeitszimmer.«
»Darf ich ihn sehen?« Der blasse Junge schien mit seiner Frage einen länger gehegten Wunsch zu äußern.
Die Graseder griff harsch ein: »Fabian, bitte. Vielleicht ein anderes Mal. Herr Schmidt ist sehr beschäftigt.«
Schmidt schaute den Jungen an, der ihn unbeirrt fixierte: »Gut. Gern darfst du ihn sehen. Komm.«
Als Schmidt zwei Zimmer weiter die Türe zu seinem Arbeitszimmer öffnete, sprang der Hund mit einem mächtigen Satz durch den Spalt. Fabian prallte förmlich zurück. Die plötzliche Präsenz des sandfarbenen Rüden erschreckte ihn. Shiva sprang sofort an ihm hoch, die Vorderpfoten auf seiner schmalen Brust. Schmidt schrie: »Shiva, runter, sofort!«, während der Junge taumelnd nach einem festen Stand suchte. Sein »Ein bisschen heftig« sollte gelassen klingen, aber der Gesichtsausdruck des Buben war immer noch wie hypnotisiert. Der Hund hatte den Befehl nun befolgt und schnupperte fordernd, mit der Nase schubsend an der Jeans des Neuankömmlings. Fabian rührte sich nicht, auch nicht als Shiva schließlich seine Hand ableckte.
»Was ist denn das für eine Rasse?«, fragte er mit fachmännischem Unterton.
»Keine. Ein Mischling aus Indien. Das Resultat einer Strandbekanntschaft in Goa.« Schmidt wunderte sich über seine eigene Ausführlichkeit. Goa würde dem Jungen nichts sagen.
Der hatte sich von dem Schrecken erholt. Er bewegte seine Hand behutsam Richtung Kopf des Hundes, der nun zwischen ihnen stand und leicht zitterte. Als hätte er die Gedanken von Schmidt gelesen, sagte er dabei: »Ich bin nur vorsichtig. Angst habe ich keine …«, und nur einen Augenblick darauf entfuhr ihm das Satzende, »… keine richtige.« Schmidt beobachtete, wie Fabian Shiva streichelte. Shiva drückte mit seinem mächtigen Schädel gegen Fabians Hand, so dass seine Augenlider hochgezogen wurden und seine
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