Der Marathon-Killer: Thriller
lang hielt und dann mit ihm auf den Asphalt sank. Die zwei Dum-Dum-Geschosse waren in Pradeeps Kopf förmlich explodiert, statt wieder auszutreten. Die Rückseite seines Schädels fühlte sich an wie feuchtes Moos.
Im anschließenden Durcheinander wurde der Gürtel losgeschnitten und entschärft, doch Marchant beschäftigte nur ein einziger Gedanke, während man ihn in einer Kakofonie aus Sirenengeheul davonführte: Würden sie Pradeeps Sohn am Leben lassen, oder würden sie ihn töten?
4
Daniel Marchant schaute hinaus auf das flache Tal und beobachtete eine Schar Kanadagänse, die vom Wasser aufstiegen, am Kanal entlangflogen und nach rechts in Richtung Dorf davonzogen. Morgendunst hing über dem Wasser, der sich mit dem blauen Rauch von den Öfen der Kanalboote mischte, die am anderen Ufer lagen. Neben dem Kanal verlief die Bahnlinie nach London, und ein kleiner Zug mit drei Waggons wartete am Bahnhof auf die ersten Pendler des Tages. Im Wald auf dem Hügel hinter den Gleisen hämmerte ein Specht in kurzen Abständen. Sonst herrschte Stille.
Marchant hatte trotz seiner Erschöpfung nur mit Unterbrechungen geschlafen, und er wusste, ein weiterer Tag mit Befragungen lag vor ihm. Wenigstens befand er sich jetzt nicht mehr in London, sondern in einem sicheren Haus irgendwo in Wiltshire. Nach dem Marathon hatte ihn ein Zivilfahrzeug von der Tower Bridge zum Thames House gebracht, wo er duschen und sich die Kleidung anziehen konnte, die Leila aus seiner Wohnung geholt hatte. Er sah sie nur kurz, gab ihr das Handy zurück, aber das Gespräch zwischen ihnen verlief steif. Ihr Blick überraschte ihn. Er hatte sich auf sie gefreut, wollte sich bei ihr bedanken, weil sie ihm während des Laufs geholfen
hatte, doch im Nachhinein war er dankbar für ihre Zurückhaltung; seit diesem Zeitpunkt war er auf der Hut gewesen.
Er hatte nicht erwartet, als Held gefeiert zu werden, jedoch auch nicht, dass man ihn in den Keller des MI5-Hauptquartiers führen und stundenlang in einem kleinen stickigen Raum verhören würde. Eine Befragung in den Räumen des MI6 wäre passender gewesen, schließlich stand er dort immer noch auf der Gehaltsliste. Doch in dem Augenblick, in dem er in Thames House eingetroffen war, wurde ihm klar, dass man andere Pläne mit ihm hatte. Er durchschaute nur nicht, welche.
Seine Rolle bei dem versuchten Anschlag auf den Marathon war für die Geheimdienste schwierig, das akzeptierte er. Gleichzeitig bereiteten ihm einige Fragen Sorgen: Warum war er da gewesen, warum hatte der Gurt bei niemandem sonst Verdacht erregt? Gewissermaßen ein Zivilist hatte die Lage gerettet, nur handelte es sich bei ihm nicht um einen ganz normalen Bürger, sondern um einen suspendierten MI6-Agenten; einen Agenten zudem, dessen vor Kurzem verstorbener Vater des Hochverrats verdächtigt wurde; um einen Sohn, der den Familiennamen reinwaschen wollte.
Natürlich hatte der MI5 hinter der Entscheidung gestanden, ihn zu suspendieren, genauso wie er auch die treibende Kraft gewesen war, die seinen Vater vom Chefsessel beim MI6 gestoßen hatte, und das erhöhte die Spannung bei dem Verhör im Keller zusätzlich.
»Sie können sich vorstellen, wie das von unserem Standpunkt aussieht«, hatte der Vernehmungsbeamte gesagt, während er in dem schlichten, weiß gestrichenen
Raum Kaugummi kauend seine Runden um Marchant drehte. Marchant, der auf dem einzigen Stuhl saß, kannte den Mann nicht, der sich als Wylie vorgestellt hatte. Kurz nach dem erzwungenen Ausscheiden seines Vaters war Marchant in Thames House von einem Ausschuss befragt worden, doch dieser Mann hatte nicht dazugehört. Wylie war in den späten Vierzigern und plattfüßig, er hatte dünnes rotes Haar und blasse, viel zu trockene Haut. Wenn man ihm auf der Straße begegnen würde, dachte Marchant, würde man ihn für einen überarbeiteten Polizisten halten oder für einen Lehrer, der in der Innenstadt unterrichtete, jedenfalls für jemanden, der mehr Papier als Tageslicht zu sehen bekam und seine Kollegen besser kannte als seine Ehefrau.
»Zwei Männer laufen zusammen und versuchen verzweifelt, die Tower Bridge zu erreichen, um ein möglichst großes Publikum zu haben. Einer von ihnen kommt gerade aus Indien und ist vollgepackt mit Sprengstoff. Der andere« - Wylie hielt inne, als habe ihn der Ekel vor Marchant überwältigt - »der andere ist ein entlassener Geheimdienstagent mit Problemen, der dafür sorgt, dass der erste sein Ziel erreicht.«
»Suspendiert, nicht
Weitere Kostenlose Bücher