Der Marathon-Killer: Thriller
gesagt.«
»Aber Ihre ehemaligen Kollegen wussten Bescheid. Die geben Informationen nur nicht gern weiter, nicht wahr?«
Plötzlich begriff Marchant. Wylie unterstellte, seine Verwicklung sei geplant gewesen, Teil einer Verschwörung, durch die der MI6 den MI5 bloßstellen wollte und Marchant seinen Posten zurückbekommen sollte.
»Für den MI6 kann ich nicht sprechen«, sagte er.
»Nein, das können Sie wohl nicht. Aber Sie würden gern. Solange Sie für ihn gearbeitet haben, waren Sie trocken.
Und jetzt kommt der wahre Marchant zum Vorschein, was? Los, sagen Sie schon, Sie haben einen Tipp bekommen. Von einem der alten ›Partner‹« - er betonte das Wort spöttisch - »der sich entschieden hat, es lieber Ihnen zu verraten als uns. Heute Morgen haben Sie sich auf die Suche nach einem Mann mit einem Gurt gemacht. Sie haben ihn nicht zufällig entdeckt, diesen einen Läufer unter fünfunddreißigtausend, der sich in die Luft sprengen wollte.«
Marchant dachte an Leila und daran, was sie über Paul Myers gesagt hatte, der vor dem Marathon irgendetwas aufgeschnappt hatte, und er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Hatte jemand den Anruf zwischen ihr und Myers abgehört? Das würde seine zufällige Begegnung mit Pradeep in ganz anderem Licht erscheinen lassen: Cheltenham informiert den MI6; der MI6 informiert einen suspendierten Agenten, der den Bombenanschlag vor der Nase des MI5 vereitelt. Allerdings hatte Wylie mit Sicherheit keine Ahnung, welche Befürchtungen er in Marchant weckte.
»Was hat Ihnen dieser Turbanträger über sich erzählt?«, wollte Wylie wissen und wechselte erneut die Richtung.
Turbanträger? Marchant wunderte sich, wie konservativ es beim MI5 immer noch zuging. Er hätte gedacht, dass man auch hier inzwischen ein wenig integrationsfreudiger geworden wäre. »Seinen Namen hat er mit Pradeep angeben. Ursprünglich stammt er aus Cochin in Kerala. Er hat es Kochi genannt, wie die Einheimischen dort, was darauf hindeutet, dass er Inder war.« Marchant hatte Tatsachen schon immer gemocht. Harte
Fakten, über jeden Zweifel erhabene Zahlen gaben Sicherheit in seiner Welt, die sich in ständiger Veränderung befand.
»Südindien«, sagte Wylie. »Wir hatten gehofft, mit diesen Terroraktionen wäre es vorbei.«
Lassen Sie meinen Vater da raus, dachte Marchant. Die Bombenanschläge im letzten Jahr, deren Ausgangspunkt man in Südindien vermutete, hatten aufgehört, nachdem sein Vater Weihnachten als Chef des MI6 zurückgetreten war, ein Punkt, der seinen Feinden beim MI5 nicht entgangen war. »Pradeep kannte sich außerdem in Neu-Delhi aus«, sagte Marchant, entschlossen, ruhig zu bleiben. »Dort hat er mit seiner Frau und seinem Sohn gelebt. Er schien Chanakyapuri zu kennen, das Diplomatenviertel im Süden der Stadt.«
»Ungewöhnlich für einen Einheimischen, den Stadtteil zu kennen, in dem sich vor allem ausländische Botschaften befinden.«
»Möglicherweise. Schwer zu sagen. Er hat wenig über sich selbst verraten. Gute Englischkenntnisse und starker indischer Akzent. Sein Kind war vier oder fünf Jahre alt und trug auf dem Foto, das er mir gezeigt hat, ein braunes T-Shirt von einer Schule. Wenn Sie ihn nicht erschossen hätten, hätte er vielleicht noch mehr über sich erzählt.«
Marchant sah den Schlag kommen - er war obligatorisch, seit der MI6 zum ersten Mal über seine Privatschulnase auf den MI5 heruntergeschaut hatte - und hob den linken Unterarm schnell genug, um den Hieb abzublocken. Sein im Fort geschärfter Instinkt wollte mit der Rechten zurückschlagen, doch Marchant beherrschte
sich und packte stattdessen Wylies Oberarm. Ihre Gesichter kamen sich nahe, ehe Marchant losließ.
»Nächstes Mal knallen wir Sie beide ab«, sagte Wylie und saugte an seinem Inhalator.
5
Paul Myers nahm einen kräftigen Schluck von seinem dritten Pint London Pride. »Dreißig Sekunden länger, und die Flugzeuge wären kollidiert«, sagte er. »Die Flugaufsicht der CAA ist außer sich vor Wut und will wissen, wie viele andere Beinahezusammenstöße in Großbritannien darauf zurückzuführen sind, dass die Leute in Colorado an den Atomuhren herumgespielt haben.«
»Und?«, fragte Leila und sah sich im Pub um. Das Morpeth Arms, genau gegenüber vom MI6-Hauptquartier auf der anderen Flussseite, wurde gern von Mitarbeitern der britischen Geheimdienste besucht. Am Tresen erkannte sie ein oder zwei Kollegen, die darauf warteten, von einer der tschechischen oder russischen Barfrauen bedient
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