Der Marathon-Killer: Thriller
zu werden.
»Man sollte sich einfach nicht auf sein Navi verlassen, wenn es Krieg gibt.«
Leila lächelte und nippte an ihrem Sauvignon. Sie war müde. Beim MI5 hatte man sie am Nachmittag gehen lassen, nach dem zweiten Tag mit Befragungen. Heute waren die Amerikaner dabei gewesen: James Spiro, der Chef der CIA-Dienststelle London, hatte ihr eine Menge Fragen über Daniel Marchant gestellt, aber keine ihrer eigenen beantwortet. Jetzt wäre sie gern bei Daniel gewesen
und hätte mit ihm besprochen, was beim Marathon geschehen war, doch angeblich wusste niemand, wo er steckte. Myers war der Trostpreis. Er hatte seine Rolle am gestrigen Tag gespielt und stellte einen Beweis dafür dar, dass alles tatsächlich passiert war. Mehr noch interessierte sie jedoch, was so geredet wurde.
»Es war gut, dass du mich gestern angerufen hast«, sagte sie und legte die Hand auf seinen sommersprossigen Unterarm. Myers trug einen Fleecepulli, der ihm zu groß war und dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte.
»Sollen wir die Zeit nicht ein bisschen zurückdrehen? Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als du im Fort angekommen bist …«
»Kannst du dich erinnern, was genau du gehört hast? Gestern?«
Myers lehnte sich zurück. »Wahrscheinlich gar nichts. Ein Südinder, den wir überwachen, hat irgendwas über ›fünfunddreißigtausend Läufer‹ gesagt. Hast du irgendwem davon erzählt?«
»Nur Daniel. Kurz vor dem Start.«
Myers lächelte und wusste nicht, wohin er den Blick wenden sollte. Wie die meisten Analysten, die Leila beim GCHQ kannte, hatte er ein gestörtes Sozialleben. Sein Kopf hing viel zu tief über seinem Bier, das er mit großen Händen hielt, deren Fingernägel abgebissen waren. Trotzdem konnte er gut zuhören, und zwar nicht nur in den Chatrooms der Dschihadis , sondern auch alten Freunden wie Leila. Sie wusste, dass sein Interesse an ihr noch nicht erloschen war, einerseits, weil er häufig plump auf ihren Busen starrte, aber auch, weil er so schnell zugestimmt hatte, nach London zu kommen, als sie jemanden zum
Reden brauchte. Natürlich wusste sie, dass es falsch war, seine Begeisterung auszunutzen; allerdings hatte sie keine andere Wahl. Sie brauchte dringend Gesellschaft.
»Ich versuche dahinterzukommen, wie das alles passiert ist und warum er derjenige war, der den Gürtel entdeckt hat«, sagte Leila und beschloss, keinen Wein mehr zu trinken.
»Komm schon, Leila, er war schon immer so ein blödes Glücksschwein. Manche Leute werden dauernd an die besten Stellen versetzt, treffen beim Elfmeterschießen und ziehen mit dem schönsten Mädchen ab.«
Myers hob den Kopf kurz, und seine dicke Brille glitzerte im Licht. Beim Biertrinken kam immer seine poetische Ader durch, und er starrte noch einmal verstohlen auf Leilas Busen.
»Ich mache mir Sorgen um ihn«, sagte sie. »Nach dem, was mit seinem Vater passiert ist.«
»Er bekommt seinen Posten zurück. Schließlich hat er uns den Arsch gerettet, oder?«
»Hoffentlich sehen die Amerikaner das ähnlich. Stephen Marchant konnten sie nie leiden, und Daniel trauen sie nicht über den Weg. Ich denke, es ist vermutlich das Beste, wenn wir beide dieses abgefangene Gespräch nicht erwähnen. Das wirft kein gutes Licht auf ihn.«
»Nichts dagegen. Ich hätte es dir sowieso nicht erzählen sollen. Die Jungs in Colorado Springs halten ihn für einen Scheißhelden«, fuhr Myers fort und trank sein Glas leer. »Sag mal, kann ich heute Nacht bei dir schlafen? Mein letzter Zug nach Cheltenham ist schon weg.«
»Du kannst das Sofa haben«, sagte Leila, überrascht von seiner Dreistigkeit.
Als sie auf die leere Millbank hinaustraten und sich nach einem Taxi umschauten, blickte Leila ihm in die Augen. »Du glaubst doch nicht, dass es stimmt, was die über seinen Vater behaupten?«
»Nein. Das hätten wir gewusst. Früher oder später hören wir alles in Cheltenham. Die Sache war einfach politisch nützlich. Sie haben ihm nicht vertraut. Der Premierminister und Armstrong. Der ganze verfluchte Haufen. Nicht, weil er ein Verräter gewesen wäre. Sie haben ihn einfach nicht verstanden. Er war von der alten Schule, schlicht nicht ihr Typ.«
»Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt einen Maulwurf gab«, sagte Leila und schaute übers Wasser hinweg nach Legoland, das beleuchtet in den Nachthimmel aufragte wie eine grob behauene Pyramide.
»Stephen Marchant war es nicht, und mehr weiß ich auch nicht«, sagte Myers, der leicht ins Schwanken geriet, als sein Blick auf
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