Der Marathon-Killer: Thriller
Moment lang stellte er sich vor, er würde das Feld mit Pradeep anführen und sei den Spitzenläufern in einem gnadenlosen Endspurt ausgerissen. Dann erinnerten ihn seine Beine daran, wie müde er war.
»Woher stammen Sie, Pradeep?«, fragte er. »Aus welchem Teil von Indien?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich aus Indien bin?«
»Ich habe mal da gelebt.«
»Wo denn da?«
»Delhi. Chanakyapuri.«
»Sehr schön«, meinte Pradeep, bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen und brachte ein schwaches Lächeln
zustande. Über die Heimat zu reden schien ihm Kraft zu verleihen.
»Ich erinnere mich nur noch an die gelben Blüten des Goldregens. Ich war sehr klein.«
Einige Sekunden lang trabten sie im Gleichschritt dahin, hüpften im selben Takt auf und ab. Beiden fiel es auf, beide fühlten sich wie in Trance. »Müssen wir sterben?«, fragte Pradeep.
»Nein. Müssen wir nicht.«
»Meine Heimatstadt ist Kochi.«
»In Kerala?«
»Meine Frau stammt auch von dort. Wir haben einen Sohn, der bei uns in Delhi lebt. Die bringen ihn um, wenn ich das heute nicht erledige.«
»Wer sind ›die‹?«
Pradeep antwortete nicht. Stattdessen zog er ein kleines Foto aus einer Tasche vorn am Gürtel und zeigte es Marchant.
Marchant betrachtete ein junges Gesicht, das ihn anlächelte. Das hatte er nicht bedacht. Pradeep mochte kein freiwilliger Attentäter sein, aber er hatte ein Motiv, die Sache zu Ende zu bringen. Das raubte ihm den Mut. Pradeep hatte sein Ziel, den Botschafter, verfehlt, trotzdem konnte er sich immer noch an sein Wort halten und sich auf der Tower Bridge in die Luft sprengen, um seinen Sohn zu retten. Marchant blickte auf seine Uhr: eine Stunde und neununddreißig Minuten.
»Aber Sie wollen das hier doch nicht zu Ende bringen?«, fragte er. »Sie wollen nicht sterben.« Ehe Pradeep antworten konnte, begann Marchants Handy zu klingeln. Es war Colorado Springs.
Erneut stellte sich Marchant vor, dass die Brücke, wenn man sie von hoch oben betrachtete, wie Kinderspielzeug aussehen musste. Er hörte dem jungen Amerikaner zu, der ruhig und bestimmt zu ihm sprach oder zu Armstrong oder zu jemand anderem. Und dann war der Zeitpunkt gekommen, langsamer zu werden.
»Wenn das GPS-Gerät piepen sollte, laufen Sie sofort wieder schneller, verstanden?«, sagte der Amerikaner.
»Verstanden, ja.«
»Und nun werden Sie langsamer, Sir. Das Fenster ist offen. Zwei Minuten ab jetzt.«
Marchant blickte Pradeep an und war sich dessen Kooperation plötzlich nicht mehr sicher. So lange hatte er von ihm verlangt weiterzulaufen; jetzt betete er, der Mann würde abbremsen. Doch Pradeeps Tempo blieb konstant, er schaute stur geradeaus. Wenn überhaupt, schien er Kraft gewonnen zu haben. Er lief weiter, bis sie die Brücke erreichten.
»Vergessen Sie nicht, Sie haben Zeit, wieder zu beschleunigen, wenn sich das GPS beschwert«, erklärte der Amerikaner. »Ganz locker also. Eine Minute fünfundvierzig Sekunden.«
Marchant schob sich näher an Pradeep heran und packte ihn am Arm. »Es ist gut, wir können langsamer werden. Wir können stehen bleiben. Geschafft.« Sie befanden sich am Rand der Brücke, näherten sich dem ersten Turm und hielten immer noch das alte Tempo. Marchant wusste, dass sich Tränen in Pradeeps Schweiß mischten, während er sich für seinen jungen Sohn weiter vorwärtskämpfte. Aber seine Beine gaben unter ihm nach, zuerst das eine, dann das andere, und schließlich lag er in Marchants
Armen und schluchzte, während sie weitergingen. Marchant blickte auf seinen Empfänger und kontrollierte die Geschwindigkeit: Der Anzeige zufolge waren sie fast zwölf Stundenkilometer schnell.
Marchant gelang es später nie, die genaue Reihenfolge der nun eintretenden Ereignisse zu rekonstruieren. Er erinnerte sich an zwei Männer vom Bombeneinsatzkommando, die in ihrer schweren, kakifarbenen Schutzkleidung von der anderen Seite der Brücke auf sie zugerannt kamen und ihm zuriefen, er solle bleiben, wo er war. Und später erfuhr er, dass irgendwo im Himmel über Heathrow zwei Passagierflugzeuge früher zur Landung ansetzten, als sie eigentlich sollten, und dabei auf Kollisionskurs gerieten, eine Katastrophe wurde nur durch einen wachsamen Fluglotsen verhindert.
Der Doppelschuss, der über die Brücke hinweghallte und Pradeeps Kopf nach hinten riss, musste abgefeuert worden sein, kurz bevor die Männer vom Bombeneinsatzkommando bei ihnen eintrafen. Marchant erinnerte sich, wie er Pradeeps schlaffen Körper eine Sekunde
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