Der Marathon-Killer: Thriller
doch wenn es so weit ist, erstattet er uns beiden Bericht.«
»Sie gehen demnach davon aus, dass Dhar mit ihm reden wird?«
»Sie nicht?«
Carter wusste, Fielding vermutete es. Der MI6 setzte im Augenblick alles darauf. Die Entdeckung dieser Zahlungen
hatte alles verändert. Salim Dhar war möglicherweise tatsächlich einer der ihren, eine von Stephen Marchants atemberaubend weitsichtigen Anwerbungen. Wahrscheinlicher jedoch hatte er einfach Glück gehabt. In den Achtzigern hatte niemand den islamischen Terror voraussehen können. Dhar war vielleicht nur ein Versuchsballon, einer von vielen, die von den Geheimdiensten rund um die Welt gestartet wurden, weil man die Hoffnung hegte, sie könnten später von Nutzen sein. Aber bei Dhar hatte Marchant einen Trumpf gezogen, es war einer dieser Durchbrüche, wie sie in jeder Karriere nur einmal passieren. Hätte er es riskiert, ihn laufen zu lassen? Dhars Liste von Gewaltakten gegen die Amerikaner hätte ihn zu einem äußerst riskanten Informanten gemacht, insbesondere da die CIA den Chor derjenigen anführte, die Marchants Rücktritt forderten.
Carter schritt im Raum hin und her, denn er fand es leichter, den auf dem Rücken liegenden Fielding aus verschiedenen Blickwinkeln anzusehen. »Sie brauchen mir nicht zu erklären, dass es Stephen Marchant war, der diese Zahlungen persönlich genehmigt hat, das vermute ich ohnehin. Und ich lasse mich zu dem verrückten Schluss hinreißen, dass Sie keine Ahnung haben, ob das Geld lohnend investiert war und zu welchem Gott Dhar nachts betet. Das sieht wirklich nicht besonders gut aus.«
Fielding hielt die Augen geschlossen.
»Wie auch immer, er hatte es bisher nur auf Amerikaner abgesehen. Ihre Leute haben wohl gehofft, er habe gute Manieren und würde die Hand, die ihn einundzwanzig Jahre lang gefüttert hat, nicht beißen. Und wenn das der Fall ist, gibt es nur eine einzige Person, der er möglicherweise vertraut: Stephen Marchants Sohn Daniel. Wir
wollen unser Stück von dem Kuchen, Marcus. Mit Salim Dhar könnte der Westen vielleicht so tief wie nie zuvor in Al Kaida vordringen.«
Carter hielt inne und ließ seine Worte in der Luft hängen. Es klopfte an der Tür.
»Herein«, rief Fielding.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Anne Norman und sah zuerst Carter und dann ihren Chef auf dem Boden an. »Wir hatten gerade einen Anruf aus Delhi. Im Gymkhana Club ist eine Bombe explodiert.«
30
Leila betrachtete es als öffentlichen Ausdruck der Dankbarkeit, dass die CIA sie dem Team zugeteilt hatte, das zusammen mit dem US Secret Service den Besuch des amerikanischen Präsidenten in der Stadt vorbereitete. Einer der amerikanischen Agenten hatte von einem Kollegen in der Londoner Botschaft gehört, welche Rolle sie beim Marathonanschlag gespielt hatte, ein Ereignis, das ihren guten Ruf begründet hatte. »Allerdings hat Turner Munroe seine hübsche Laufuhr niemals zurückbekommen«, hatte er am Morgen ihrer Ankunft in Delhi gescherzt. »Schön, Sie an Bord zu haben.«
Keine der beiden Seiten wollte es als echten Zwist bezeichnen, doch die Beziehungen zwischen den britischen und den amerikanischen Geheimdiensten waren merklich abgekühlt, und man hatte Leila ermahnt, im Umgang mit den Angehörigen der MI6-Niederlassung in Delhi die gleiche Vorsicht walten zu lassen wie bei Agenten aus den typischen verfeindeten Ländern wie Iran und Russland. Offiziell handelte es sich lediglich um einen dreimonatigen Austausch, doch sie würde, dessen war sie sich sicher, niemals wieder nach Großbritannien zurückkehren, um dort zu arbeiten - oder zu leben. Sie redete sich ein, sie habe das Leben in der weiten Welt schon immer bevorzugt,
und das stimmte insofern, als ihr das Gefühl, nirgendwo verwurzelt zu sein, nicht fremd war.
Während sie aus dem Fenster ihres Zimmers in der amerikanischen Botschaft auf die gelben Goldregenbäume blickte, welche die Straßen von Chanakyapuri säumten, zwang sie sich, nicht an Daniel zu denken, ob sie ihn nun wiedersehen würde oder nicht. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie stets gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem sie sich den Konsequenzen der Entscheidungen stellen musste, die sie für ihr Leben getroffen hatte. Die Konsequenzen waren schon in den letzten Monaten schwer zu ertragen gewesen, doch der Tag war bisher nicht gekommen. Noch nicht. In der Zwischenzeit gelang es ihr, sein Foto mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch liegen zu lassen und ihr gemeinsames Leben an einen anderen
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