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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Tomeo
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Büchern blättre. Sollte es zutreffen, daß gerad'e die Menschen, die sich widersprechen, die aufrichtigsten sind? Wie dem auch sei, Bautista, ich ahne, daß dieser Brief ein wichtiger Meilenstein in meinem Leben sein wird. Von dem Bericht, den Sie mir geben werden, wird vieles abhängen. Deshalb ist mir so daran gelegen, Punkt für Punkt sämtliche Reaktionen des Herrn Grafen zu kennen, bevor ich den Versuch der Annäherung unternehme. Vielleicht wird mit alldem eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte anbrechen. Eine Epoche, in der alle Egoismen verbannt sein werden. Ach, mein Freund! Begreifen Sie? Sie, in Ihrer ganzen Kleinheit und Borniertheit, werden sich in den Grundstein einer gewaltigen universellen Verbrüderung verwandeln! Bekommen Sie nicht Lust, meine Hände zu küssen und mir beim Andenken derer, die Sie am meisten lieben, zu schwören, daß Sie beim Erfüllen Ihrer Mission über die bloße Pflichterfüllung noch hinausgehen werden? Heute nachmittag, mein guter Bautista, werden Sie sich in einen neuen Michail Strogoff , in einen tapferen Kurier des Zaren, verwandeln, bereit, den größten Gefahren zu trotzen, nur um dem Empfänger die Botschaft zu überbringen, die man Ihnen anvertraut hat. Was bedeutet angesichts einer so erhabenen und schönen Mission da schon die Gefahr, daß der Herr Graf Sie trotz der grünen Frösche, trotz der Korrektheit Ihrer Manieren und trotz allem anderen mit einer schönen Rute aus Eschenholz verbläut? Denn, wenn ich ehrlich sein soll, es kann sein, daß die Frösche nicht Talisman genug sind, Sie vor einer Tracht Prügel zu bewahren. Um so mehr, wenn man in Betracht zieht, daß Don Demetrio Sie in Gesellschaft seiner Gattin empfangen kann und Sie die Tierchen in diesem Fall nicht zu Hilfe nehmen können. Wenn dies der Fall ist – ich sagte es Ihnen bereits, aber ich möchte es noch einmal wiederholen –, vergessen Sie die Frösche. Sie in Anwesenheit der Gräfin aus der Tasche zu holen, ich bestehe auf diesem Punkt, wäre äußerst gefährlich. Beim ersten Kreischen der erlauchten Dame wird der Herr Graf sich mit dem Dolch in der Hand auf Sie stürzen. Denken Sie also daran: in Gegenwart von Dona Beatriz dürfen Sie weder die Frösche aus der Tasche holen noch einen Schritt tun. Halten Sie Ihre Hinterbacken ruhig. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Don Demetrio so eifersüchtig ist wie eh und je. Verharren Sie reglos solange wie nötig. Den Blick auf den Boden geheftet. Was auch geschehen mag. Auch wenn der Herr Graf, in Anspruch genommen durch irgendeine dringende Angelegenheit, das Zimmer verläßt und Sie mit Dona Beatriz allein läßt. In diesem Fall würde die Situation sich außerordentlich komplizieren. Sie können sich vorstellen, mein lieber Freund, daß es mir einerlei ist, was zwischen der Frau Gräfin und Ihnen geschehen kann. Es wäre indes nicht das erste Mal, daß eine Dame von hoher Geburt sich durch die prächtige Roheit eines gemeinen Mannes gefangennehmen und sogar verführen läßt. Abgesehen von irgendwelchen moralischen Erwägungen wird dieser Umstand alsbald Anlaß schwerer Komplikationen. Das lehrt uns die Geschichte. Da haben Sie zum Beispiel den Fall Faustinas, die, wiewohl Imperatorin von Rom, sich unsterblich in einen Gladiator verliebte. Sie lächeln wieder? Erscheint Ihnen der Vergleich drollig? Nun ja, Sie haben wenig von einem Gladiator, aber auch Dona Beatriz ist nicht so schön, wie jene Dame gewesen sein soll. Die Proportionen sind also gewahrt. Es steht zwar nicht in den Geschichtsbüchern, aber es ist zu vermuten, daß in diesem Fall die Initiative von Faustina ausging. Zweifellos war sie es, die dem Gladiator Avancen machte. Und die Geschichte kann sich wiederholen. Dona Beatriz ist, wie alle Dicken, recht schüchtern, jedoch imstande, hinter einem Schleier schamhaften Gehabes die überwältigendsten Leidenschaften zu verbergen. Versuchen wir also, uns die Situation vorzustellen, die sich ergeben könnte. Machen wir es wie im Kino, drehen wir den Film zurück, und begeben wir uns an den Anfang. Der Herr Graf hat Sie im Beisein seiner Gattin empfangen. Sie übergeben ihm den Brief, und er schickt sich an, ihn zu lesen. Da präsentiert sich plötzlich ein Lakai und kündigt ihm mit erregter Stimme den Besuch des Erzherzogs an. Don Demetrio, etwas überrascht – der Besuch eines so hohen Würdenträgers in seinem Schloß ist nicht eben häufig – stürzt aus dem Zimmer, in Richtung Bibliothek. Dort erwartet ihn die erlauchte

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