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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Tomeo
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umherflattern sehen, sind nicht dieselben, die wir in der Vitrine des Sammlers, von der grausamen Nadel durchbohrt, betrachten können. Der Tod läßt die magischen Reflexe ihrer Flügel verblassen. Dabei fällt mir ein anderes, wunderbares Insekt ein, die Bremse. Haben Sie schon einmal eine Bremse gesehen? Ihre Augen sind gefärbt mit glänzenden Flecken, Fäserchen und Streifen, deren Schattierungen das ganze Spektrum der Farben umfassen. Die mikroskopischen Strukturen der Hautdecke zerlegen die Lichtstrahlen und zerteilen sie in verschiedene Wellenlängen. Und was geschieht, wenn die Bremse stirbt? Diese ganze Schönheit verschwindet in einem Augenblick. Die Hautdecke des Auges zieht sich zusammen, die Strukturen verändern sich, die Farben verschwinden. Und die Moral dieses plötzlichen Untergangs ist offensichtlich: wer die Augen der Bremse, die an Farben so reich sind wie ein gotisches Kirchenfenster, in ihrer ganzen Schönheit genießen will, der muß auch bereit sein, ihre Stiche zu ertragen. Eine tote Bremse mißfällt nicht, aber sie ergötzt auch nicht. Das ist eine exzellente Metapher, die sich auf viele Menschen anwenden ließe. Begreifen Sie, Bautista, wieviel Weisheit ich in meinen Büchern finden kann? Um wieder auf die Frösche zurückzukommen: Sie müssen Don Demetrio versichern, daß die grüne Farbe ihren Tod überdauern wird. Das ist natürlich nicht sicher, aber Sie müssen es ihm sagen und überdies erreichen, daß er Ihnen felsenfest glaubt. Was hernach geschieht, wenn die Frösche sterben, soll unsere Sorge nicht sein, denn uns interessiert einzig und allein, daß dieser arme Mann, durch meine Handschrift erschöpft, irgendeinen Ansporn erhält und die Lektüre des Briefes mit frischen Illusionen wiederaufnimmt . Und damit nähern wir uns den Höhepunkten Ihrer Mission. Wenn der Herr Graf mit einem Seufzer – wiewohl gestärkt durch die Anwesenheit des grünen Froschpärchens – in dem Versuch fortfährt, meinen Brief zu entziffern, müssen Sie Ihre Wachsamkeit noch mehr anspannen. Seien Sie darum bemüht, sich nicht die kleinste Einzelheit entgehen zu lassen. Forschen Sie auch noch die winzigsten Besonderheiten seines Mienenspiels aus, den wechselnden Glanz seiner Augen, die bewegliche Linie seiner Brauen. Wachen Sie selbst über den Rhythmus und die Tiefe seiner Atemzüge. Erinnern Sie sich daran, daß der Bericht, den ich von Ihnen erwarte, erschöpfend sein muß. Ich werde Sie alles fragen, was mir in den Sinn kommt, und noch mehr. Auf, Bautista, ziehen Sie nicht schon wieder die Augenbrauen hoch, ich kenne Sie gut und weiß, was Sie jetzt denken! »Weshalb solche peinliche Genauigkeit?«, werden Sie sich erneut fragen. Die Antwort liegt auf der Hand. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß dieser Brief meine Rückkehr in die Welt der Lebenden bedeuten kann, aber ich werde es Ihnen noch einmal mit anderen Worten erklären. Hören Sie aufmerksam zu, und lassen Sie das Naserümpfen.

Der Brief, den Sie Don Demetrio heute nachmittag überbringen werden, ist gleichsam ein Experiment. Vom Ausgang dieses Experiments wird es abhängen, ob wir dergleichen Briefe auch an die übrigen Schloßbewohner der Gegend schicken. In diesem Land gibt es viele, die wie wir eingesperrt in ihren Festungen leben. Ganz sicher war ich es jedoch, der ihnen die Idee eingegeben hat, sie könnten, ein jeder in seinem Schloß, ihr egoistisches Heil als Einsiedler finden. Jetzt macht mich so viel Verantwortung bange, Bautista. Vor einigen Tagen habe ich angefangen, mir darüber Gedanken zu machen. Und ich habe auch über die Wirksamkeit meines eigenen Eingesperrtseins nachgedacht. Gestern nacht quälte mich eine ganz bestimmte Frage: Sind diese mittelalterlichen Lösungen, so sagte ich mir, immer noch möglich? Sind unsere Probleme denn nicht gemeinsame und unsere Schlösser nicht, ob wir es nun wollen oder nicht, miteinander verwoben? Eint uns alle denn nicht der gleiche Wahnsinn? Achten Sie genau auf das, was ich Ihnen da sage, mein Freund, denn nicht einmal ich selbst vermag mich zu verstehen. Ich befürchte, daß ich mich in einige Widersprüche verwickle. Haben doch all diese vernünftigen Zweifel an der Statthaftigkeit meiner Zurückgezogenheit und meiner Weltentsagung wenig zu tun mit der Moral meiner Geschichte von den Blutegeln – eine Geschichte, die ich natürlich niemals erlebt habe – oder mit der Gleichgültigkeit, in der mich die Geschehnisse draußen in der Welt lassen, während ich in meinen schönen

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