Der Marschenmörder
Thode einige Wochen vor der Katastrophe überworfen hat. Wegen einer Lappalie. Und nun ist jede Gelegenheit zu einem versöhnlichen Gespräch auf immer vorbei.
In der Knechtekammer hat Timm eine spartanisch eingerichtete Unterkunft gefunden. Nur selten traut er sich aus dem Haus. Er meidet die Reste des einst so stattlichen Marschhofes und spürt das verlegene Schweigen, sobald er ein Gasthaus betritt oder auch nur den Laden des Hökers. Ihn irritieren die mitleidsvollen Blicke der Frauen, das prüfende Abschätzen in den Augen der Männer. Er weiß, dass sein Erscheinen in der Öffentlichkeit die Diskussion über das Thema, das die Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt, lediglich unterbricht.
Er erschrickt, als es eines Tages in Beidenfleth, wo bis dahin nur Hinrich Ahrens, der Dorfgendarm, die Staatsgewalt verkörperte, von Uniformierten wimmelt. Die 750-Seelen-Gemeinde ist zur Garnison geworden, nachdem, um befürchteten Unruhen vorzubeugen und die Spurensuche zu intensivieren, die Achte Compagnie des Dritten westfälischen Landwehrregiments Nr. 16 stationiert wurde.
Mit Argwohn begegnen die jungen Dorfbewohner den schneidigen Eindringlingen, mit scheuer Neugier und heimlichem Kichern die Mädchen den schmucken Kavalieren. Und mit kaum verhohlener Besorgnis betrachten die Mütter die in ihren Häusern Einquartierten, die sie zudem ohne Entgelt beköstigen müssen.
Da nimmt Timm am 18. August erleichtert zur Kenntnis, dass die Herren Rötger und Jacobsen ihm eine neue Bleibe verschafft haben. Er werde beim Landgendarm Hans Wöhlers in Kost und Logis gehen und in dessen Haus in Itzehoe eine sichere Obhut finden. Noch am selben Tag zieht er, nachdem er Hanne unter Tränen für ihre Fürsorge gedankt hat, mit seinen wenigen Habseligkeiten in Rötgers geschlossener Kutsche in die Störstadt.
Dort ist für ihn ein behagliches Junggesellenzimmer eingerichtet. Die Frau des Gendarms, eine fröhliche, etwas schwatzhafte Endvierzigerin, empfängt den Logiergast fast überschwänglich. Denn Rötger hat für Unterkunft und Versorgung einen guten Preis geboten.
Kräftig langt Timm zu am reich gedeckten Abendtisch, und seine Wirtin flüstert später ihrer Nachbarin zu, der bedauernswerte Überlebende der Katastrophe in Groß Campen sei ein zurückhaltender junger Mann mit ordentlichen Manieren, allerdings sehr gefräßig.
Timm fühlt, dass die Anspannung der letzten Tage nachlässt. Doch sofort ist sie wieder da, als ihm Wöhlers nach dem Essen bei einer Flasche Bier von den Anordnungen der Commission berichtet: Fernhalten von jeglichem Verkehr mit Fremden. Keine Besuche außer von Verwandten und dem Bevollmächtigten Jakob Schwarzkopf. Spaziergänge, Einkäufe und Einkehr in Gasthäusern nur in Begleitung des Gendarms, der zur Vermeidung von Aufsehen Zivil tragen soll.
Eine weitere Order verschweigt der Hausherr seinem neuen Untermieter: Er möge nachts in Erfahrung bringen, was irgendeinen Verdacht auslösen könnte. Denn Hans Wöhlers denkt nicht daran, für die Commission den Lauscher an der Tür zu spielen.
Im Haus richtet sich Timm gemütlich ein, lobt die Hausfrau für die schmackhaften Mahlzeiten und genießt das süße Nichtstun. Zugleich ist er sich bewusst, dass er zwar kein Gefangener, kein Untersuchungshäftling ist, doch weit entfernt von der erträumten Freiheit.
Er besucht nachmittags die „Stumpfe Ecke“ und kehrt sonntags ein im „Klosterbrunnen“. Doch er meidet den Kontakt zu Gästen, die ihn als Einzelgänger akzeptieren, sorgfältig, doch nicht stutzerhaft gekleidet, wohlhabend offenbar. Denn an Geld mangelt es ihm nicht, seitdem Jakob Schwarzkopf ihm 1000 Taler ausgezahlt hat.
Die Commission kommt indessen trotz der rigorosen Verfolgung verdächtiger Kreaturen keinen Schritt voran, hält es aber für überflüssig, den einzigen Zeugen des Massakers weiterhin zu vernehmen. Nach endlosen Gesprächen, in denen sie verschiedene Variationen des Verbrechens durchspielen, kommen Rötger und Jacobsen zu der Schlussfolgerung, es sei absurd, anzunehmen, ein einzelner Mann könne binnen zwei, drei Stunden auf verhältnismäßig kleinem Raum acht Menschen im Schlaf überfallen und bestialisch ermorden.
„Es müssen drei oder mehr gewesen sein, die sich gleichzeitig und, wie wir wissen, mit mindestens drei Mordwerkzeugen auf die Schlafenden gestürzt haben“, stellt Jacobsen sachlich fest. „Sie haben den Überraschungseffekt genutzt. Denn vier kräftige junge Männer und der bärenstarke Vater
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