Der Marschenmörder
sich Rötger, ob es, vermögend der Nähe zu Hamburg zu Bekanntschaften gekommen sei, die von üblen Folgen hätten sein können. Er erfährt, dass Timm mehrfach nach St. Pauli gefahren, doch keine Nacht dort geblieben ist. Und er schreibt in sein Notizbuch: Keine bedenklichen Verbindungen, inbesonderheit nicht mit Frauenzimmern.
Im Itzehoer Justizamt herrscht eine nie gekannte Hektik, die sich äußert in nervöser Reizbarkeit. Darunter leidet die kollegiale, von gegenseitiger Achtung getragene Zusammenarbeit der Ermittler. Bevor jedoch die blamablen Misserfolge der Großfahndung zu Unstimmigkeiten führen, haben sie sich auf eine strikte Arbeitsteilung geeinigt. Während Jacobsen, der in Ehren ergraute Büromensch, den Schreibkram erledigt, den Berg von Vernehmungsprotokollen, Dienstanweisungen und Nachfragen bearbeitet, versieht Rötger den Außendienst, reist durchs Land, informiert sich bei den Dienststellen und zieht Erkundungen bei den Marschbewohnern ein.
Dem kontaktfreudigen Beamten gelingt es schnell, das Vertrauen der vielfach verängstigten Menschen zu gewinnen. In ausführlichen Gesprächen glaubt er sich ein realistisches Bild von Timm Thode zu machen. Dabei bemüht er sich, jeglichen bei den Befragten aufkommenden Verdacht gegen Timm zu zerstreuen: „Nur eine Formsache.“
Selten hört er Anerkennung oder gar Lob über den zweiten Thode-Sohn. Er erfährt, dass Timm einem Bäckerjungen einen Stuten geklaut hat und nach gemeinsamer Zechtour einem Schlachtergesellen die Geldbörse mit 40 Talern aus der Tasche zog. Kleinkriminelles, das nicht einmal bis zum Dorfgendarm gedrungen ist.
Aufmerksam konstatiert Rötger die einmütige Aussage über Timms Liebe zu Tieren, denen er nie etwas zu Leide getan habe. Besonders betonen die Befragten seine Fürsorge für die beiden Hofhunde, für die er schon als Schuljunge Würfelschinken und Kuchenreste aus der Küche stibitzte und dafür Schelte und Prügel riskierte. Und Rötger fragt sich: Kann so einer auch nur mit ansehen, wenn seine Lieblingstiere massakriert werden?
Bei Timms Verwandten stößt er auf vorsichtige Zurückhaltung. Marten Krey aus Brockdorf bestätigt, sein Enkel sei im Grunde gutmütig und harmlos. Doch niemals würde ein in Geldsachen so vorsichtiger und verschlossener Mann wie sein Schwiegersohn Johann Thode die Kassette dem Sohn anvertraut haben, zu dem er das geringste Vertrauen hatte. Rötger stutzt auch, als Krey berichtet, Timms Mutter habe noch vor wenigen Wochen ihrer Schwester geklagt: „Es ist so schlimm mit Timm, dass man es gar nicht sagen kann.“
Letztendlich aber stellt der Justizrat fest: Ein etwas aus der Art geschlagener Sorgensohn, der häufig log, kleine Diebereien beging, sich gern vor schwerer Arbeit drückte, ansonsten als harmlos gilt, als gutmütig sogar. Unter den Brüdern buchstäblich das fünfte Rad am Wagen, kompensierte er seine Enttäuschung über Spott und Zurücksetzung mit übergroßer Tierliebe. Aber ein Anstifter oder Kumpan einer Mörderbande, die seine Familie hinschlachtet? Niemals.
18
Wochen, Monate gehen ins Land. Das Leben in der Wilstermarsch normalisiert sich, findet zum altgewohnten Rhythmus zurück, geprägt von alltäglicher schwerer Arbeit, die auch sonntags und an Feiertagen nur wenige Stunden beschaulicher Ruhe und unterhaltsamer Zerstreuung zulässt.
Die Schreckensnacht auf Groß Campen ist darüber nicht vergessen. Das Verbrechen bietet weiterhin Gesprächsstoff im feierabendlichen Familienkreis, in den Spinnstuben, in Arbeitspausen, am Stammtisch, beim Frühschoppen. Dem Entsetzen der Tage nach der Katastrophe ist Unmut gefolgt, Verärgerung über die allenthalben spürbare, doch bislang ergebnislose Arbeit der Fahnder.
Schon bieten Zweifler Wetten an, dass die Mordbrenner nie gefasst werden. Auch Spottverse gehen um:
Jeden lütten Höhnerklauer kriegt se bi de Büx.
Awers, wenn de Mörders kamt, denn beschickt se nix.
Mit Empörung und Hohn wird ein Vorfall erörtert, der Paul Schade, den Pächter der „Büchsenkate“, in Schwierigkeiten gebracht hat. Besucher seines Gasthofes an der Bekaubrücke zwischen Stördorf und Krummendiek erinnern sich, dass der Wirt wenige Tage vor dem Geschehen in Groß Campen feindliche Gesinnung gegen die Thode-Familie geäußert habe. Vor Verhaftung und Verhör bewahrt ihn nur ein energisches Schreiben seiner Verpächterin, der Klösterlichen Obrigkeit zu Itzehoe, in dem es heißt:
Im Krughaus herrscht geringer Verkehr, und es ist nicht
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