Der Marschenmörder
geeignet, um Verbrechern einen Versammlungsort oder eine Zufluchtstätte zu bieten. Paul Schade ist ein unbescholtener Mann und wird nach seiner Persönlichkeit nicht für fähig erachtet, eine Mordthat zu verüben.
Dass Timm nach Itzehoe gezogen ist, erregt weder Aufsehen noch Verdacht. Jeder weiß, dass sein Aufenthalt beim Nachbarn Schwarzkopf eine Notlösung war. Von polizeilicher Obhut ist nichts bekannt. Friedrich Rötger hat den Gendarm Wöhlers und seine beredtsame Gattin auf Verschwiegenheit eingeschworen. Denn nichts käme ihm ungelegener als die sensationelle Nachricht, der überlebende Thode-Sohn stehe unter Polizeiaufsicht.
Rötger ist einig mit seinem Kollegen, dass die Skrupellosigkeit, mit der landauf, landab jeder noch so gering Verdächtige in die Justizmangel genommen wird, auf Timm nicht anzuwenden ist. „Dazu bräuchten wir wenigstens einen handfesten Beweis“, räumt Jacobsen ein. „Stellen Sie sich das Entsetzen vor, welches seine Verhaftung auslösen würde.“ Und Rötger ergänzt: „Und dann die Riesenblamage, wenn wir ihn wieder laufen lassen müssen.“
Die von den Ermittlern zunächst durchaus ernst genommene Möglichkeit, Timm könnte in irgendeiner Weise in das Verbrechen verwickelt sein, wird weiter abgeschwächt durch das Holsteinische Sanitätscollegium. Acht Asservate, darunter Timms Pullover, Bluse und Hose, sein Taschenmesser und eine Nagelschmutzprobe in zugekorkten Glas, wurden eingeschickt. Und zurückgesandt mit dem Ergebnisbericht:
Weder an Kleidung und Gegenständen, noch im Nagelschmutz wurden trotz sorgfältigster mikroskopischer Untersuchung und chemikalischer Versuche Blutflecken oder -spuren entdeckt.
Hensen, Prof. u. Psychologe
Und so wird die Jagd auf die unbekannte Räuberbande ausgeweitet über die Landesgrenzen bis nach Dänemark, Mecklenburg und Bayern. Nur der wahre Mörder bleibt unbehelligt.
Timm ist auf der Hut. Unauffällig und höflich verhält er sich gegenüber seinem Hauswirt Wöhlers und dessen Frau. Die Angst vor Vernehmungen, vor Fragen, deren Beantwortung ihn leicht Kopf und Kragen kosten könnte, lässt nach. Erleichtert und verwundert stellt er fest, dass die Herren Justizräte es offenbar nicht für nötig halten, ihn weiterhin in die Mangel zu nehmen.
So gibt er allmählich die Rolle des passiven, in sich gekehrten Überlebenden einer Katastrophe auf. Die vom Schleswig-Holsteinischen Polizeipräsidium ausgesetzte Belohnung von 1000 Mark für sachdienliche Hinweise auf die Mörder erhöht er, nach Absprache mit Jakob Schwarzkopf, auf 5500 Mark. Einen Steinhauer beauftragt er mit der Erstellung eines eindrucksvollen Grabsteins. Für 584 Taler schafft der künstlerisch begabte Carl August Strat aus Itzehoe ein Monument mit christlichen Motiven und der Aufschrift:
Begräbniß der Familie Thode und deren Erben. Hier ruhen sanft und in Gott meine lieben Aeltern und Geschwister, die durch Mörderhand gestorben sind in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1866.
Es folgen die Namen und Geburtsdaten der Opfer, unter ihnen auch Abel.
Mit diesen Maßnahmen setzt er Zeichen, die in der Bevölkerung sympathische Beachtung finden. Doch völlig verschwinden die Stimmen des Misstrauens nicht. Immer wieder äußern Skeptiker, unter ihnen sogar Großvater Marten Krey, den Verdacht, Timm sei an der Sache nicht ganz unschuldig.
Die Fahnder lassen sich davon nicht beeindrucken. Sorgfältig analysieren sie die Ergebnisse ihrer Arbeit, werten die Aussagen der Menschen aus Timms Umfeld aus. Und stellen fest, dass sich der Verdacht gegen ihn nicht erhärtet hat.
„Wir können ihn nicht weiterhin unter Wöhlers’ Aufsicht belassen.“ Friedrich Rötger starrt auf den Aktenberg. „Ein Haufen Papier, der täglich wächst. Und kein annähernd brauchbares Ergebnis.“
Jacobsen runzelt die Stirn. „Tscha. Der Thode. Nicht zu fassen. Im doppelten Wortsinn. Und nun ab in die Freiheit. Das passt mir nicht. Ganz und gar nicht.“
Wie immer, wenn ihm unbehaglich ist, steht Rötger auf. Geht ans Fenster. Schaut hinaus. „Verdächtig sind viele. An die Hundertfünfzig wurden bereits überprüft. Mancher tagelang festgesetzt. Und wieder entlassen.“
Jacobsen nickt verdrossen. „Und der Thode? Vielleicht wandert er aus. Wie so viele heutzutage. Mit dem Vermögen in der Tasche kann er allerhand anstellen. In Amerika. Oder Australien.“
„So schnell lassen wir den Vogel nicht davonflattern.“ Rötger hat sich wieder an den Schreibtisch gesetzt. Kramt
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