Der Marschenmörder
lassen sich nicht einer nach dem anderen abschlachten wie Karnickel. Die Lage der Toten und die Verletzungen zeigen außerdem, dass die Täter wieder und wieder zugeschlagen und zugestochen haben. Das geht nicht geräuschlos ab. Vermutlich sind die Bäuerin und die Tochter aufgewacht und haben sich verzweifelt gewehrt. Alles muss überfallartig und in relativ kurzer Zeit abgelaufen sein.“
„Und der Überlebende?“ wendet Rötger ein.
„Nun, sie haben schlicht seine Kammer übersehen. Und er hat bekanntlich einen gesegneten Schlaf.“
„Soweit folge ich Ihnen“, pflichtet Rötger seinem Kollegen bei. „Aber dann wird die Sache irreal. Sie sehen ihn wegrennen. Mit der Kassette. Ballern ein bisschen hinterher. Lassen ihn laufen. Und verschwinden. Nein, lösen sich in Luft auf. Die Frage ist: War er so etwas wie der Auftraggeber? Haben sie ihn deshalb geschont?“
Jacobsen nickt: „Hier müssen wir ansetzen. Weiter nach der Bande forschen. Gleichzeitig den Thode sorgfältig beobachten und möglichst in Sicherheit wiegen. Wenn er mit denen im Bunde war, ihnen Geld geboten hat, werden sie versuchen, es sich zu holen.“
„Das wird schwierig werden“, lacht Rötger. „Da hat doch der Schwarzkopf den Daumen drauf.
Noch sind die Justizräte Rötger und Jacobsen voller Zuversicht. Die Fahndung nach der ominösen Mörderbande läuft auf Hochtouren. Die Ermittler schauen am Feierabend nicht auf die Uhr, arbeiten bis in die Nacht. Denn sie spüren, dass ihnen die Zeit davonläuft wie die Mordbuben nach vollbrachter Tat.
Noch lassen sie sich nicht entmutigen, wenn Kirchspielsvogteien, Justizämter und Gendarmerien melden, dass Festnahmen und Vernehmungen verdächtiger Elemente bislang ausnahmslos zu deren Freisetzung geführt haben. Das spornt sie zu verstärktem Arbeitseifer an. Doch ein Schreiben, in dem Friedrich Rötger die Süderdithmarscher Landvogtei in Meldorf um Mithilfe bittet, zeigt erste Anzeichen von Resignation:
Die Tat erinnert an einen Brandfall im König-Friedrich-VII.-Koog aus uralter Zeit, bei dem sämtliche Hausbewohner umkamen. Um zu erfahren, ob übereinstimmende Umstände zur Ermittlung gebracht werden können, wird um Nachforschung ersucht.
Über die hektische Fahndung mit teilweise kuriosen Aktionen lässt die Commission Timm Thode nicht gänzlich aus den Augen. Zumal in der täglich eingehenden Flut von Ratschlägen, Tipps und Denunziationen immer wieder Hinweise auf den einzigen Überlebenden auftauchen.
Etwa in einem Brief des Landmanns Johann Poppe aus Beidenfleth:
Herr Justizapparath! Timm Thode war sehr mit Lügen behaftet. Dieses mus mahl untersucht werden ob es wahr ist ohder nicht.
Sorgfältig verwahren die Ermittler auch das in Timms Kammer aufgefundene angesengte Deckblatt einer der zurzeit sehr beliebten Kriminalgeschichten mit dem Titel „Wahrhaftige Geschichte so sich auf dem Schlosse Hohenlinde zugetragen und wie durch Geistesgegenwart der Gräfin Adelinde Ferrandolez ihr Leben und Gut gerettet wurde“.
Sollte ein solches in gemütvoller Art geschriebenes Fantasieprodukt für Timm Anregung oder Auslöser gewesen sein? Rötger und Jacobsen kommen nach eingehender Diskussion zu dem Ergebnis, dass die Lektüre kaum zu einem Kapitalverbrechen der vorliegenden Art führen kann. Sie halten es nicht einmal für erforderlich, Timm mit dem vor den Flammen geretteten Rest einer Schauergeschichte zu konfrontieren.
Umso gründlicher intensivieren sie ihre Recherchen über sein Vorleben durch Befragung aller Personen, mit denen er in den letzten Jahren Kontakt hatte. So klappert Friedrich Rötger mit seiner Kutsche die Höfe ab, auf denen der vom Vater aus dem Haus Gewiesene in der Zeit von 1860 bis 1864 beschäftigt war.
Er erfährt wenig Positives, bisweilen auch Abfälligkeiten. Einig sind die Befragten vor allem in der Feststellung, Timm sei faul gewesen. Rötger nimmt das nicht allzu ernst. Er weiß, dass schon eine gewisse Trägheit in einem Umfeld, in dem Schwerstarbeit das tägliche Brot bedeutet, eine Todsünde ist. Dagegen notiert er, dass Bauer Albert Mahn in Pinnebergerdorf sich erinnert, Timm habe oft mit dem Vermögen seiner Eltern geprahlt.
Weniger aufschlussreich, doch eine Eintragung ins Notizbuch wert findet er die Aussage der Bauernmagd Catharina Subke: „Timm war bei der Arbeit langsam und dämlich, aber von gemütlicher Natur.“ Besonders bemängelt sie: „Gegen Mädchen war er blöd.“
In Pinneberg, beim Advokaten und Hofbesitzer Wiedt, erkundigt
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