Der Marschenmörder
zu verwehren.
Am 18. November 1867 formuliert der Itzehoer Staatsanwalt Braun anhand des richterlichen Untersuchungsberichtes die Anklage und übergibt sie der Anklagekammer des Königlichen Appellationsgerichts Kiel. Oberstaatsanwalt Giehlow genehmigt das umfangreiche Schriftstück ohne Abstrich oder Änderung und sendet es schließlich am 7. Januar mit einer formellen Anklage gegen Timm Thode wegen achtfachen Mordes sowie Brandstiftung zurück. Zugleich verweist er alle weiteren Maßnahmen an das Itzehoer Schwurgericht mit Staatsanwalt Braun als Ankläger.
Da kommt Hektik auf im Königlichen Kreisgericht, denn Giehlow fordert unmissverständlich, der Prozess müsse noch im Januar beginnen und möglichst abgeschlossen werden. Zur Bildung einer Schwurgerichtskammer empfiehlt er den erfahrenen Appellations-Gerichtsrat Krah, die vier Beisitzer mögen die Itzehoer Richter aus ihren Reihen wählen, desgleichen einen Pflichtverteidiger beiordnen. Umgehend tritt das Richterkollegium zusammen und setzt den Prozessbeginn auf den 31. Januar fest.
Es ergeht durch persönliche Postzustellung die Ladung von 17 Zeugen, darunter Jakob Schwarzkopf, die Verwandten des Angeklagten, der Müller Lembke aus Krummendieck, die Ärzte Dreessen, Mencke, Goetze und Tagg. Und die Ermittler Rötger, Jacobsen, Mohrdieck und Schütt.
Aus 29 von Behörden und Gemeindeämtern vorgeschlagenen Geschworenen wählt das Gericht nach sorgfältiger Prüfung des Standes, des Leumunds und der Ehrenhaftigkeit zwölf: Hofbesitzer, Kaufleute, Gutspächter, zwei Gastwirte, einen Bäcker, einen Apotheker, einen Gärtner. Sie werden eidesstattlich verpflichtet zur unparteiischen und nur der Gerechtigkeit dienenden Findung der Schuld oder Unschuld des Inculpanten.
Kopfzerbrechen bereitet dem Gericht die Standortfrage. Das neue Domizil, eine klassizistische Stadtvilla an der Reichenstraße, ist zu klein für einen Mammutprozess. Da findet der Vorschlag eines Beisitzers, den ehemaligen Ständesaal des Rathauses zu verwenden, ungeteilte Zustimmung. Umgehend werden Handwerksmeister mit dem provisorischen Umbau des Versammlungsraums der Holsteinischen Stände zu einem Gerichtssaal beauftragt.
Schnell spricht sich das Datum des Prozessbeginns herum, und die Anfragen häufen sich derart, dass man die Ausgabe von kostenlosen Eintrittskarten beschließt. Nach wenigen Tagen sind diese vergriffen. Nur für den Prinzen Friedrich von Glücksburg, der höchstes Interesse an dem Prozess bekundet, wird ein Sonder-Billett reserviert.
Sieben Monate in der grauen, nicht heizbaren Zelle, unterbrochen nur von gelegentlichem halbstündigen Rundgang im engen Gefängnishof, haben Timms Widerstand erlahmen lassen. An manchen Tagen, besonders wenn einige Strahlen der milden Herbstsonne die Düsternis des kleinen Raums aufhellen, sehnt er sich sogar nach einer weiteren Vernehmung.
Sie ängstigt ihn nicht mehr, seit er mit der Unterzeichnung des Protokolls der richterlichen Untersuchung sein weiteres Schicksal selbst besiegelt hat. Und der kurze Gang über den Rathausplatz zur Reichenstraße erscheint ihm jetzt wie ein Stück Freiheit.
Nur von ungefähr hat er den Wechsel der Jahreszeiten wahrgenommen. Die lichte Helle im Mai, die wohlige Wärme eines Augusttages. Erinnerungen zwingt er nieder. Kein Bild kommt ihm vor Augen. Nicht die hochgeladenen Ackerwagen bei der Heuernte. Der von sechs Pferden gezogene Pflug auf dem schweren Marschboden. Das Schlachtfest im Dezember, wenn zwei schwere Sauen auf der Leiter hingen, die Mutter Koteletts briet und der Geizhals von Vater dem Hausschlachter und den Söhnen einen Schnaps spendierte. Die Kutschfahrten zum Wilsteraner Jahrmarkt oder der Ochsenauftrieb in Itzehoe, die derbe Ausgelassenheit am Sonnabend im Beidenflether Dorfkrug.
Noch konsequenter verdrängt er die Bilder der Mordnacht. Die verzerrten Gesichter der Erschlagenen. Den ungleichen Kampf mit der Schwester. Das Flehen der Mutter.
Tietjens gegenüber gibt er sich freundlich, fast devot. Bisweilen sogar redselig, solange das Gespräch nicht seine Verbrechen berührt. Als aber Hinrich Ahrens ihm nach langer Zeit eisiger Schweigsamkeit die Hand entgegenstreckt: „Timm, wi wöllt uns de Saak nich noch swoorer maken. Du weest, ik bün Hinnerk. Un dorbi schall dat blieven“ – da kann Timm die Tränen nicht zurückhalten.
Ernst Versmann, der einzige Besucher, stößt auf offene Ohren beim Versuch, die Seele des schwer Gestrauchelten zu retten. Doch nie verlässt den
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