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Der Marschenmörder

Der Marschenmörder

Titel: Der Marschenmörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Brorsen
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Geistlichen der letzte Zweifel an Timms Aufrichtigkeit. Selbst wenn er ihn mit ins Gebet hineinnimmt: Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden …
    Wenige Tage vor dem Prozessbeginn aber vertraut Timm dem erfahrenen Menschenfreund an: „Ich habe Angst, Herr Propst. Nicht vor dem Richter. Und nicht vor dem Henker. Ich habe Angst vor den Menschen im Zuschauerraum, den Zeugen, den Geschworenen. Vor ihren Blicken. Ihrem Hass. Ihrer Verachtung. Die Nachbarn, die Verwandten, der Kaufmann, der Viehhändler, Abels Mutter, Johann Bielenberg und Christian Hinrichsen, die ich so hundsgemein beschuldigt hab.“
    Unter Tränen streckt er ihm die zusammengeballten Hände entgegen: „Ich flehe Sie an, Hochwürden: Sagen Sie dem Richter, er möge mich verurteilen. Zum Tode, was sonst? Aber, bitte, er möge mir die Begegnung ersparen. Mit alldenen, die ich kenne von Kindheit an. Alles will ich gestehen. Alles ertragen. Aber …“
    Beruhigend legt Versmann seine Hände auf Timms Unterarme: „Du musst zu deinen Taten stehen, Timm. Auch in einer Situation und einem Umfeld, das die Rechtsordnung nun einmal vorschreibt. Dich aufrichtig, ohne Ausflüchte oder Schuldzuweisung an andere, zu ihnen bekennen. Das könnte die Verhandlung wesentlich verkürzen. Und deine Qual.“
    Timm blickt auf, sieht Versmann mit dankbarem Blick in die Augen: „Das werde ich tun. Ja. Das werde ich tun.“
    29
    Gericht! Das Wort geht Timm nicht aus dem Sinn. Es bedroht ihn wie ein Gespenst. Steht es doch in seiner Vorstellung für Strafe, Sühne, Rache und – Tod. Es erinnert ihn an den verhassten Konfirmandenunterricht, de Pasterstünn, in der oft die Rede war vom Jüngsten Gericht, wo Jesus, sitzend zur Rechten Gottes, richtet über Lebende und Tote.
    Selbst der Vater, starrköpfig und knochenhart, wenn es ums liebe Geld ging, war mehr als einmal nachgiebig geworden, wenn der Viehhändler oder der Müllermeister mit einem Rechtsstreit drohte. „Mit Gerich will ik nix to dohn hebben“, brummte er und lenkte ein.
    Ebenso, als die Dienstmagd Elsabe gehen musste, der Johann ein Kind angedreht hatte. Und die wegen Schädigung ihres guten Rufes eine Abfindung forderte. Der Alte versuchte zu handeln. Doch als der Advocat von Zivilklage sprach, sogar mit dem Staatsanwalt drohte, da rückte er doch lieber 426   Taler plus Anwaltsgebühren heraus, bevor er für den leichtfertigen Bengel vor einem Richter zu Kreuze kriechen würde.
    Nun muss er, Timm, selbst vor Gericht. Um sechs Uhr früh haben sie ihn geweckt, Tietjens und ein Gerichtsdiener namens Veit, der Hinrich Ahrens vertritt. Denn der Dorfgendarm steht heute ziemlich obenan auf der Zeugenliste.
    Nach einem (ausgerechnet heute!) verdammt knibbelligen Frühstück bringen sie ihn gegen sieben ins nahe Rathaus. Dort stehen an die fünfzig Menschen, die auf einen nicht genutzten Platz im Ständesaal hoffen. Vier Grenadiere in schmucker preußischer Uniform bilden gemeinsam mit Tietjens und Veit einen geschlossenen Kreis um Timm, so dass die Gaffer kaum einen Blick auf ihn erhaschen können.
    Vor dem ehrwürdigen Gebäude aus dem Jahre 1695 mit dem hohen zweiseitigen Treppenaufgang sind etwa zwanzig Wachen postiert, Gewehr im Anschlag. Denn die Ratsherren befürchten Unruhe, Revolte und vielleicht sogar Lynchjustiz.
    Timm erschrickt angesichts der waffenstarrenden Staatsgewalt. Doch Rudolf Tietjens flüstert ihm zu: „Du muss keen Angst hebben. Wi passt all op, dat Keeneen di wat deiht.“
    Wie lange können zwei Stunden dauern? Einen Tag? Zwei? Eine Ewigkeit? Timm, gewohnt, weder Stunden noch Tage zu zählen, werden jetzt sogar die Minuten zu lang. Er sitzt auf einer schmalen Bank in einem winzigen Raum, der offenbar als Abstellkammer benutzt wird, von zwei Soldaten bewacht. Einer steht am Fenster, beobachtet aufmerksam die wachsende Menschenmenge auf dem Rathausplatz. Der zweite hat es sich auf einem Stuhl nahe der Tür leidlich bequem gemacht, das Gewehr zwischen den Beinen.
    Irgendwann schlägt die Rathausuhr die neunte Stunde. Kurz darauf wird die Tür geöffnet. Ein Unsichtbarer ruft: „Vorführung des Angeklagten!“
    Timm hämmert das Herz bis zum Hals. Schon auf dem Korridor, der geradewegs zum Portal des Ständesaals führt, glaubt er Schreie und Stampfen zu hören: Mörder! Verbrecher! Halunk! Kopf ab!
    Vor und hinter ihm je zwei Uniformierte, an den Seiten Tietjens und Veit, die seine Unterarme fest im Griff haben, betritt er den Saal.
    Keine Rufe. Keine Flüche. Nur

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