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Der Marschenmörder

Der Marschenmörder

Titel: Der Marschenmörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Brorsen
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schwungvoll in lateinischer Schrift seinen Namen unter das in Sütterlin geschriebene Protokoll, das er nur auf Geheiß des Richters flüchtig gelesen hatte.
    „Setzen Sie sich doch einen Augenblick zu mir“, fordert Rave den Büroassistenten auf, der unschlüssig am Schreibpult verharrt. Als er sich anschickt, an dem wuchtigen Schreibtisch Platz zu nehmen, hebt Rave die linke Hand: „Halt. Ich habe eine Idee. Holen Sie zwei Gläser.“
    Während sich Meindermann ins anliegende Sekretariat begiebt, stellt Rave die halbvolle Flasche mit dem Armagnac auf den Tisch. Mohrdieck hat ihm empfohlen: „Genießen Sie ihn erst, wenn der Thode das Untersuchungsprotokoll unterschrieben hat.“
    „Wir haben uns den verdient“, prostet er dem leicht verwirrt dreinschauenden Assistenten zu. „Besonders Sie.“
    Zögernd nippt Meindermann an seinem Glas. „Ich habe Ähnliches wie heute noch nie erlebt.“
    Rave nickt verständnisvoll: „Ich weiß. Sie sind mental durch die Hölle gegangen. Ich hatte es weniger schwer. Kannte die Akten. Wusste, was auf uns zukommen würde.“ Er greift zur Flasche. „Noch einen?“
    „Nein danke.“ Aber, wenn ich mir eine Frage erlauben darf?“
    „Nur zu.“
    „Die Sache mit Johann, dem Bruder. Sie geht mir nicht aus dem Kopf. Der einzige Moment, in dem Thode in Panik geriet. Davonrennen wollte. Haben Sie ihm geglaubt?“
    Nachdenklich blickt Rave den Rauchkringeln nach. „Ich habe ihm geglaubt. Warum sollte er lügen, nachdem er bis dahin alles eingestanden hatte?“
    „Aber …“
    „Ich weiß, meine Reaktion. Ich sage Ihnen, lieber Meindermann, es war keine plötzliche Erkenntnis seines Verbrechens. Kein Mitleid. Und schon gar keine Reue. Eher ein mystisches Erschrecken, als der Totgeglaubte Lebenszeichen von sich gab. Möglicherweise auch nur ein Schwächeanfall nach ungeheurer Anstrengung unter dem ständigen Druck der Angst vor Entdeckung. Sie wissen, der Zustand hielt nicht lange an. Er vollendete den Mord an Johann. Handelte weiterhin zielgerichtet bis hin zur Flucht zur Nachbarfamilie.“
    „Aber er ließ Johanns Leichnam liegen. Vergaß, die Fenster des Wohnhauses zu öffnen“, wendet Meindermann zaghaft ein. „Spricht das nicht für Panik und Verwirrung?“
    Rave schüttelt energisch den Kopf. „Ein Fehler, das mit den Fenstern. Eine Unbesonnenheit. Stellen Sie sich vor, Verbrecher würden keine Fehler begehen. Dann stünden wir schlecht da.“
    „Und Johann …“
    „Johann war ein weiterer Fehler. Selbst wenn von den Toten im Haus nur Asche übriggeblieben wäre, und welches Schauermärchen ihm auch immer eingefallen wäre, Johanns Leiche hätte den Weg zum Täter gewiesen. Rötger und Jacobsen befanden sich keineswegs auf dem Holzweg, als sie der Räuberlüge nachgingen. Aber die hätten sie dem Thode niemals abgenommen, wenn nur Johann als Mordopfer entdeckt worden wäre. Das änderte sich ja schlagartig bei Antritt der zweiten Commission.“
    Rave seufzt zufrieden: „Seitdem stimmt die Richtung. Was jetzt noch kommt, ist mehr oder weniger nur noch Routine.“
    28
    Langsam mahlen die Mühlen der Justiz, langsamer noch die des Königlichen Kreisgerichts zu Itzehoe, das sich nun, kaum etabliert, unter veränderten Rechtsverhältnissen mit einem einzigartigen Kaptialverbrechen beschäftigen muss. Dazu noch unter dem Druck der Öffentlichkeit, die, unvollkommen informiert durch spärliche Zeitungsberichte, auf endliche Erledigung des Falles Thode drängt.
    Derweil treiben auf Jahrmärkten und anderen Volksbelustigungen Gaukler mit Entsetzen Scherz. Verkünden mit grollender Stimme die „erschröcklichen Thaten eines vom Satan gedungenen Meuchelmörders“, während Assistentinnen mit dem Zeigestock auf bluttriefende Kitschgemälde weisen. Moritatensänger reimen holprige Verse über die schauerliche Wandlung eines braven Bauernsohns zum mordenden Ungeheuer, verführt durch den Zaubertrank dreier Hexen in Jungfrauengestalt.
    Die Obrigkeit hält sich angesichts solcher Auswüchse zurück. Nur einmal greift der Oberstaatsanwalt Giehlow ein, als er erfährt, dass in Hamburg ein selbsternannter Gelehrter der Phremologie namens Bossard gegen Eintrittsgeld öffentliche Vorlesungen hält über Timm Thodes Schädel, den er im Gefängnis untersucht und vermessen haben will. In einem Schreiben an die Hamburger Polizei bezeichnet der ranghöchste Ankläger der Provinz Bossard als einen Mann der höchst zweifelhaften Wissenschaftlichkeit und ordnet an, ihm weitere Auftritte

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