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Der Marschenmörder

Der Marschenmörder

Titel: Der Marschenmörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Brorsen
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Aufstehen. Er bittet Tietjens, der ihm ein Frühstück mit Rührei, Schinken, Speck, Käse und Honig bringt (der Inculpants kann’s ja bezahlen), ihm das anthrazitfarbene Jackett mit den schwarzen Samtaufschlägen zu holen, das er seit seiner Verhaftung nicht mehr getragen hat. Gründlich wäscht und sorgfältig rasiert er sich in der vorgeschriebenen Anwesenheit des Wächters.
    „Warum so ein Aufwand?“, fragt Tietjens.
    Timm hält inne beim Rasieren: „Zweiter Oktober. Jetzt wird’s richtig ernst.“
    „Der Rave soll ganz umgänglich sein“.
    Timm überhört Tietjens Versuch, ihn zu ermutigen. Ihm ist mit der Klarsicht des am Abgrund Stehenden bewusst, dass dieser 2.   Oktober des Jahres 1867 der Beginn des letzten Aktes seines Lebensdramas sein wird. Und er ist entschlossen, sich der Ausweglosigkeit keinen Tag länger in den Weg zu stellen.
    Inculpant Timm Thode in Hand- und Fußfesseln vorgeführt notiert Büroassistent Jan Meindermann, der dem Untersuchungsrichter als Prokollführer zugeordnet ist. Ein schmaler junger Mann, der die Akten nicht kennt und nicht ahnt, was in den nächsten Stunden auf ihn zukommt.
    Heinrich Rave hat sich vorgenommen, sich mit eher belanglosen Fragen zum Kern der Untersuchung vorzutasten und eine Art Vertrauen aufzubauen, sofern das bei der offenbar undurchschaubaren Persönlichkeit den Inculpanten möglich ist.
    Erstaunt stellt er fest, dass sein Gegenüber einen gepflegten, soliden und zugleich schüchternen Eindruck macht (oder zu machen versucht?). Noch mehr überrascht ihn die Offenheit, mit der Timm sich den Fragen nach seiner Kindheit und Jugend, seinem Verhältnis zu Eltern und Geschwistern stellt, von Diebereien berichtet und von seiner Unlust auf die schwere Landarbeit.
    Schon in seiner Schulzeit sei er durch schlechte Lektüre verdorben worden, durch Räubergeschichten und Orgellieder. Das bringt den Untersuchungsrichter zu mühsam unterdrücktem Schmunzeln. Ebenso, als der Inculpant von seinem ungewöhnlichen Interesse an den Mordtaten des Perulino Perio erzählt und dass er während der Dienstzeit bei einem Pinneberger Landwirt mehrfach mit einem Kollegen nach Hamburg fuhr, wo er vergeblich versuchte, ein Foto des Spaniers aufzutreiben.
    Timm wird nicht müde, kleine Vergehen aufzuzählen, die er den Ermittlern verschwiegen hat. Dass er seinem Bruder Johann einmal einen Iltis stahl und verkaufte. Dass er mehrfach Prügel bezog, nachdem er dem Vater mal 40, mal 50   Taler aus der Kassette entwendet und das Geld bei Tanz und Kartenspiel verjubelt hatte.
    Erleichtert stellt Rave fest, wie unerwartet reibungslos die richterliche Untersuchung vonstatten geht. Doch gleichzeitig warnt ihn eine innere Stimme vor Timms rückhaltloser Selbstbezichtigung. Übertreibt der Thode, um unglaubwürdig zu wirken?
    „Und niemals haben Sie Ihre Handlungen bereut?“, fragt er und lenkt das Gespräch auf den Mühlenbrand in Krummendiek.
    Timm blickt auf seine großen, harten Hände. „Die Diebstähle und auch die Brandstiftung beim Müller Lembke haben mich wenig bedrückt, aber die unmenschliche Ermordung meiner Eltern und Geschwister drückte mich schon, ehe ich als Täter entdeckt war.“
    Damit gibt er das Stichwort für den Kernpunkt der Untersuchung. Rave, der sich wochenlang durch den Aktenberg gequält hat und des Öfteren mit Übelkeit kämpfen musste, erblasst, als Timm, keine Einzelheit übergehend, seine Mordtaten schildert. Und er nimmt verwundert wahr, dass bei aller Akribie, mit der Mohrdieck und Schütt die Vernehmungen durchgeführt haben, immer wieder Neues, Unfassbares ans Licht kommt.
    So erfährt er, dass die Ermordung des Vaters erst beim zweiten Versuch gelang. Dass Timm zunächst ein Pferd von der Weide holte und den Alten aus dem Haus lockte mit dem Hinweis, „Hartmut“ sei vom Wallach getreten und verletzt worden. Während der Vater das Pferd untersuchte, ergriff Timm die Handspake. Als er zum Schlag ausholen wollte, erschien Anna, die Pferdenärrin. Sie klopfte den Hals des Vierjährigen, während Johann Thode ärgerlich brummte: „Den fehlt nix. Bring em wedder op de Koppel.“
    Als Timm minutiös den Tod der Mutter und der Schwester Anna beschreibt, fällt Meindermann der Federhalter aus der Hand. Kreidebleich wankt der Protokollführer aus dem Raum. Und Rave ordnet an: „Eine halbe Stunde Pause!“
    „Sie fühlen sich geistig und körperlich in der Lage, der Untersuchung weiterhin zu folgen?“ Der Kreisrichter putzt umständlich seinen Zwicker,

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