Der Maskensammler - Roman
ein Mädchen wie sie, aber so anders und fremd, dass sie nur eines wissen wollte: «Wie heißt die?» Katrin knöpfte ihre Bluse auf. «Maria», antwortete sie. «Mädi», sagte Jean-François. Eswar sein Kind. Sein Vater hatte Witze gemacht: «Du bist eine taube Nuss!» Die Mutter hatte verstanden, was er meinte, und auch gelacht. Jetzt konnten die Eltern gucken kommen. Er hatte ein Kind, es war gesund und kräftig. Es würde blonde Haare haben und zupacken können wie er. Dass Katrin das neue Kind stillte, wollte Ursula nicht sehen. Sie verschwand hinterm Haus, holte Ugo aus seinem Verschlag und zog ihm die Kletten aus dem Fell, bevor sie ihn mit dem Schlauch abspritzte.
Katrin brachte von ihren gelegentlichen Ausflügen nach Birkenfeld eine Zeitung mit, die sie gewissenhaft von der ersten bis zur letzten Seite las. Sie als Einzige wollte wissen, was draußen in der Welt passierte: Jetzt, da sie eine Familie hatte, wollte sie informiert sein über den wirtschaftlichen Aufschwung und machte sich nachts Gedanken, wenn Jean-François neben ihr schnarchte, wie sie ein kleines Eckchen vom «Wirtschaftswunder» abbekommen könnte. Es war ihr unheimlich, was sie über den «Kalten Krieg» erfuhr, sie war – ohne es zu wissen – Pazifistin, und als sie von den Demonstrationen gegen eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands hörte, wäre sie gerne auf die Straße gegangen, um mit den anderen zu protestieren. Vom Tode Stalins erfuhr sie in einer Metzgerei, sie stand in der Schlange, sonst hätte sie vor Abscheu ausgespuckt. Die Fotos vom Aufstand in Ostberlin sah sie erst Wochen nach dem 17. Juni in einer Zeitschrift, die sie im Wartezimmer eines Zahnarztes zufällig durchblätterte. Auf der Stelle entschloss sie sich zur Anschaffung eines Radios. Es war ein billiges Modell mit Mittel- und Langwelle, aber auch mit UKW. Im Stundentakt wurden Nachrichten verlesen, abends, wenn die Kinder schliefen, stellte sie den AFN ein. Eine musikalische Revolution kündigte sich an, eine neue Welle, der Rock ’n’ Roll. Zu «Rock Around The Clock» und dem «Jailhouse Rock» machte sie die ersten, noch zaghaften Schritte des neuen Tanzes. Die Hüften musste man schwenken wie «Elvis the Pelvis», der König in einem Reich der Musik, das die ganze Erdeumspannte. Katrin hätte alles liegen und stehen lassen, wäre er bei einem Konzert in erreichbarer Nähe aufgetreten. «Love Me Tender» sang sie beim Abwaschen. Wenn sie ihn zum Tanzen aufforderte, zog sich Jean-François hinter seine Bierflasche zurück. So tanzte sie allein. Immer ausgelassener wurden die Hüpfer und Grätschsprünge, die sie riskierte. Eines Abends passierte es dann: Sie brach auf dem Bretterboden der Stube zusammen. Eine Ärztin kam, stillte die Blutung und stellte fest, dass Katrin zum dritten Mal schwanger war. Jean-François war wenig entzückt, er musste während der nächsten Wochen Enthaltsamkeit üben.
Schweigend saßen sie sich bei Tisch gegenüber. Mit den Kindern war alles in Ordnung, es gab nichts zu sagen. «Er ist wie ein Ochs», dachte sie. Und: «Das halt ich nicht länger aus!» – «Red mit mir! Sag was! Irgendwas!» Er schlürfte seine Suppe, den Kopf über den Teller gebeugt. Sie dachte an Martin, zählte bis zehn und sagte: «Wenn das so weitergeht, nehme ich mir einen anderen.» Jean-François hielt inne. «Dann bring ich dich um!» An seinen Augen sah sie, dass es ihm ernst war.
***
Jeden zweiten Tag trat Bernhard um elf Uhr vor die Tür des Jagdhauses. Mit steifen Schritten machte er eine Runde im Hof, winkte kurz in die Richtung, in der er Katrin und die Kinder vermutete, und verschwand dann auf dem Weg zur Straße oder in Richtung Wald. Er trug immer noch die zu großen Anzüge aus unverwüstlichem Zwirn seines Vaters, mit der Zeit hatte er kein Kilo zugenommen, nur sein Haar lichtete sich, er hatte eine hohe Stirn. Wenn Katrin ihn ansprach, nickte er ihr freundlich zu und sagte: «Später!»
Eines Tages stand Bernhard vor der Zeit im Nieselregen und horchte auf ein Motorgeräusch, das sich langsam näherte. Es warUlrich, sein alter Freund. Er sah verändert aus: Er trug einen Schnauzer, war nach der Mode gekleidet, und Bernhard fühlte, als sie sich umarmten, dass er schlanker war als beim letzten Besuch. «Treibst du Sport?», fragte Bernhard. «Ja, Tennis. Ich bin der neue Gottfried von Cramm, von den Frauen umschwärmt», erklärte Ulrich lachend. Er erzählte vom rauschenden Leben in Berlin: dem Café Kranzler auf dem
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