Der Maskensammler - Roman
auch das weiß ich von Ulrich. Diese kreatürliche Fruchtbarkeit erschreckt mich und schreckt mich ab. Mir ist unerfindlich, wie man sich für einen Vorgang, der den Rumpf bis zur Unförmigkeit bläht, zur Verfügung stellen kann. Ich werde, wenn es so weit ist, noch einmal ihr Gehalt aufbessern müssen. Aber darüber hinaus? Das alles geht mich nichts an. Oder doch?»
In einer anderen Tagebucheintragung erwähnte Bernhard nebenbei, er habe wieder die Angewohnheit angenommen, Grimassen zu schneiden: eine spielerische Laune ohne weitere Bedeutung. Er konnte aber an keinem Spiegel vorbeigehen, ohne den Unterkiefer unnatürlich vorzuschieben oder den Mund zu einem affigen Lächeln zu verzerren. Dazu gab er grunzende oder Gluckslaute von sich. Sein Vater hatte ihn, als er ihn wieder mal mit verzerrten Zügen vor einem Spiegel überraschte, scharf getadelt. «Beherrsche dich!» Und mit Abscheu in der Stimme: «Du bist ein Pausenclown!» Egon von Riederer hatte nie das Gesicht verzogen, nicht einmal, als er sein Entlassungsschreiben als ordentlicher Professor gegenzeichnen musste.
Bernhard hielt das, was ihn da überkam, für eine mimische Begabung und hatte mit der Zeit ein ganzes Repertoire abrufbereit zur Verfügung: der selbstgefällige Spießer, die genante alte Jungfer, der liebestolle Greis, Mecki Messer, der eingebildete Kranke oderFratzen, die den Masken an seiner Wohnzimmerwand glichen. Manchmal geriet das Spiel außer Kontrolle, die Verzerrungen wurden immer abartiger, seine Gesichtszüge begannen wie unter Elektroschocks zu zucken, er plärrte, stotterte, dehnte und zerhackte das Wort «Vater», war nicht mehr bei sich und konnte nur mit Mühe in einen Normalzustand zurückfinden. Während einem dieser Anfälle stieß er eine Vase um, die krachend zu Boden fiel. Katrin kam aus der Küche angelaufen, sah ihn und stammelte: «Jetzt ist er endgültig übergeschnappt.»
Der bittere Zug um Katrins Mund verschwand, wenn sie Lieder sang. Aber es waren melancholische Lieder, die von Abschied, enttäuschter Liebe, Hoffnungslosigkeit und Trauer handelten. Sie knöpfte ihre Kleider bis unter den Hals zu, wusch sich das Kastanienbraun aus den Haaren, sodass die ersten grauen Fäden sichtbar wurden, und sagte zu Hanni, ihrer einzigen Freundin, von Männern habe sie nun «die Schnauze voll». Ohne Freude nahm sie das Strampeln in ihrem Bauch wahr, das Kind legte sich oft quer, vor allem nachts, und bereitete ihr Schmerzen. Für eine Abtreibung war es zu spät, sie musste diese Schwangerschaft ertragen und wusste, dass sie die besten Jahre hinter sich hatte.
***
Zur Geburt ihres dritten Kindes wurde Katrin ins Kreiskrankenhaus eingeliefert. Es war ein Junge, ein Frühchen, er kam am Ende des siebten Monats zur Welt. In einer Nottaufe erhielt er den Namen Manfred und musste die ersten vier Wochen seines Lebens in einem Brutkasten verbringen. Als Katrin ihn mit nach Hause nehmen durfte, blickte sie aus rot geränderten Augen ein fremdes Wesen an, von dem sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie es in ihrem Körper getragen hatte. Es greinte und bewegte matt die Ärmchen, als wollte es sich so schnell wie möglich aus der Weltverabschieden, von der nichts Gutes zu erwarten war. Maria war damit beschäftigt, aus Kastanien Männchen zu basteln. Als sie ihren Bruder sah, riss sie einem der Männchen den Kopf ab und warf ihn aus dem Fenster. Ursula äußerte ihre Gefühle vorsichtiger: «Kannst du ihn nicht wieder wegbringen?»
Unerwartet zugänglich verhielt sich Bernhard. Nicht ganz zufällig begegnete ihm Katrin auf einem seiner morgendlichen Rundgänge. Er war wie immer in Gedanken, wollte schnell an ihr vorbei ins Haus zurück, blieb aber plötzlich stehen und nahm ihr das kleine Bündel ab. Er drückte es an seine Brust, lächelte dabei beglückt und murmelte: «Manfred. Wie mein Großvater.»
***
Im Schicksalsjahr 1954, in dem die Sowjetunion die DDR und eine Londoner Konferenz die Bundesrepublik für souverän erklärten, und in dem vor allem im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft in Bern die deutsche Nationalmannschaft die Ungarn mit 3:2 besiegte, meldete sich Ulrich erst spät im Jahr zu einem Besuch im Hause «Diana» an. Bernhard erwartete ihn mit gemischten Gefühlen: Er würde die Zwiegespräche mit seinen Masken und das ihm zur zwanghaften Gewohnheit gewordene Grimassenspiel unterbrechen, vor allem aber weitere Schilderungen der Großstadtamüsements ertragen müssen, die sich in einer Welt
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