Der Maskensammler - Roman
Glasscherben, war sie Krankenschwester oder Tierärztin. In einer Ecke hatte sie einer Maus ein Nest gebaut. Ihr hatte sie das halb ausgerissene Bein geschient, jetzt war sie so zahm, dass sie ihr Brotrinden aus der Hand fraß. Eine junge Dohle fütterte sie so lange mit Würmern und Raupen, bis sie flügge war. Aber nicht immer hatte sie Erfolg: Eine kranke Kröte, einen Maulwurf und einen Hirschkäfer musste sie trotz guter Pflege im Garten vergraben.
Was Katrin für reine Tierliebe hielt, hatte jedoch einen doppelten Boden. Ursula sah in der zahmen Maus ihre Klassenlehrerin, in dem aus dem Nest gefallenen Vogel ihren kleinen Bruder Manfred, in dem Maulwurf ihre Mutter und in der Kröte deren Freundin Hanni. In Tiergestalt wurden sie alle in ihrer Krankenstation klein und hilfsbedürftig. Die letzte Entscheidung über Leben und Tod lag bei ihr, Ursula, und nicht immer entschied sie in ihren Allmachtsphantasien, wie man es von einer Pflegerin erwarten konnte. So zog sie einmal Ugo ein halbes Dutzend Zecken aus dem Fell und zerquetschte sie in Gedanken an die Jungen auf dem Schulhof zwischen zwei Steinen.
Da Ursula in der Schule zurückhaltend und schweigsam war, hielt man sie für überheblich. Sie ertrug es, ohne sich zu wehren, dass sie wegen ihrer großen Füße, ihrer unförmigen Hosen und ihrer Ungeschicklichkeit beim Geräteturnen verspottet wurde. Wenn sie sich im Unterricht meldete, dann nur, um Mitschüler, manchmal sogar die Lehrerin, zu korrigieren. Wurde sie an die Tafel gerufen, spannte sie ihre Schultern und löste ohne Mühe jede gestellte Aufgabe. Sie war schneller als die anderen und konnte sich Fehler nicht verzeihen: Sie war die Klassenbeste. Ihre Leistungen in allen Fächern wurden mit «sehr gut» benotet, selbst in Religion, obwohl sie die Dogmen der Kirche für anmaßend, Wunder fürMärchen, Heilige für Scharlatane und die Glaubensinhalte für nicht beweisbar und daher für überflüssig hielt.
Maria, ihre jüngere Schwester, wurde von Katrin «Mädi» gerufen. Sie kam nach dem Vater, war stämmig, hatte blonde Zöpfe, runde Backen und lutschte mit ihren acht Jahren immer noch am Daumen. Wenn die Mutter schimpfte, summte sie ein Lied und summte weiter, wenn Katrin ihr eine Ohrfeige verpasste. Sie hatte ein eigenes Gemüsegärtchen, das sie selber umgrub und mit kindskopfgroßen Steinen einfasste, die sie aus der Umgebung herbeischleppte. In der Schule war sie unaufmerksam. Wenn die Lehrerin sie dabei erwischte, dass sie Papierkügelchen auf die Hinterköpfe ihrer Mitschüler abschoss, lächelte sie so entwaffnend, dass sie mit einer Verwarnung davonkam. Sie hatte eine Freundin, mit der sie auch Geheimnisse teilte, die keine waren. Stundenlang bauten die beiden in einer Kuhle, wo – wie sie glaubten – niemand sie finden konnte, aus Rinden, Moos und Stöcken eine Landschaft auf. In dieser Landschaft spielten die Geschichten von den bösen Zauberern und Hexen, den Zwergen und Elfen und den verwunschenen Königstöchtern, die in tausendjährigem Schlaf darauf warteten, von einem Prinzen wachgeküsst zu werden. Über alles liebte Mädi ihre Puppe, ohne die sie abends nicht einschlafen konnte. Wenn Katrin die Geduld verlor und sie anbrüllte: «Du bist genauso blöd wie dein Vater!», kam es vor, dass sie ins Bett machte.
Überflüssig wie die Religion war für Ursula auch ihr kleiner Bruder, den sie schon deswegen verachtete, weil alle «Manni» zu ihm sagten. Nur sie nannte ihn streng Manfred. Er war ein kränkliches, schwächliches Kind, Katrin war überzeugt, dass er an einem Herzfehler litt. Ursula hielt ihn für geistig minderbemittelt, er sagte «Milli», wenn er etwas trinken wollte, und «Broti», wenn er Hunger hatte. Er musste noch nicht zur Schule gehen, man hatte ihn ein Jahr zurückgestellt. Er lachte nie und weinte nie, stand immer im Weg und war seiner älteren Schwester eine Last. Er greinte,bis Ursula ihm aus Bauklötzen eine Burg baute. War sie fertig, stieß er sie um und greinte weiter. Gern spielte er an sich herum. Wenn Katrin das sah, sagte sie: «Komm, lass deinen Zipfel in Ruh!», und streichelte seinen Bauch, bis er die Augen schloss. Maria fasste das schrumpelige Etwas zwischen seinen Beinen gerne an, das aus ihm etwas Besonderes machte: einen Jungen. Ursula ekelte sich davor, wäre er ein Patient in ihrer Krankenstation gewesen, sie hätte es ihm weggemacht.
***
Ugo litt unter Rheuma. Nach einem heftigen Streit gab Katrin ihren Widerstand auf und erlaubte
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