Der Maskensammler - Roman
abspielten, die ihm Angst machte, und der er nichts entgegenzusetzen hatte.
Ulrich hatte sich einen Spitzbart stehen lassen, durch den eine von Bernhard bisher unentdeckte Seite seines Charakters deutlich wurde: Er glich einem nach dem neuesten Trend der Mode gekleideten Geißbock. Gleich bei der ersten Tasse Tee, die er mit einem kleinen Spritzer Rum aus einem silbernen Flakon aufbesserte, war er beim Thema Berlin. Er verkehrte jetzt regelmäßig in literarischen Kreisen, besuchte Lesungen bekannter Autoren, ließ sich einExemplar des neuesten Werkes signieren und war gern gesehener Gast im Salon einer betuchten Dame, in dem Romanciers, Lyriker, aber auch Theaterleute und angesehene Feuilletonisten verkehrten. Bernhard hatte er drei Bücher mitgebracht, die bedeutendsten Neuerscheinungen des Herbstes: Thomas Manns «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull», Max Frischs «Stiller» und den Debutroman einer jungen Französin namens Françoise Sagan, dessen Titel «Bonjour Tristesse» Ulrich mit einem leicht anzüglichen Lächeln aussprach.
Ulrich empfahl die Lektüre «für lange Winterabende», Bernhard bedankte sich, konnte sich aber schon einige Tage später nicht mehr erinnern, wo er die Geschenke hingelegt hatte. Außer einem Koffer aus feinem Leder, in den Kleidung für einen längeren Aufenthalt passte, hatte Ulrich noch einen schwarzen Geigenkasten im Gepäck. Er rief Katrin herbei und zog sie bis vor den Tisch, auf dem der Kasten geheimnisvoll lag. Er öffnete ihn mit der Miene eines Zauberkünstlers, dem gerade die Verwandlung eines Blumenstraußes in ein lebendes Kaninchen gelungen war, hob die Geige heraus und legte sie Katrin in den Arm. «Ein Anfängermodell», sagte er. «Sie werden Ihre Freude daran haben.» Und als Katrin starr vor Staunen nichts zu sagen wusste: «Sie sind musikalisch begabt. Wenn Sie fleißig üben, können Sie es zu etwas bringen.» Katrin zupfte vorsichtig an den Saiten. Sie strahlte. Dass jemand ihr zutraute, ein Instrument spielen zu können! Sie würde Unterricht nehmen, sie würde bestimmt jemanden finden. Beglückt fiel sie Ulrich um den Hals. Der tätschelte ihr beruhigend den Rücken.
Die Geige und die einfachen Melodien, die Katrin auf ihr spielen lernte, bewirkten ein Wunder: Die trübe Resignation verflog, die sich im Nebenhaus breitgemacht hatte. Fröhlichkeit und Leichtigkeit flatterten wie Schmetterlinge durch die Räume und steckten die Kinder an. Ursula klatschte im Takt, Maria tanzte, Manfred, den Katrin jetzt Burschi nannte, unterbrach sein Quengeln, undder alte Ugo vergaß seine Griesgrämigkeit. Katrin beschloss, zum ersten Mal einen Tannenbaum aufzustellen, und spielte, als es so weit war, von «Leise rieselt der Schnee» bis «Oh, du fröhliche» die schönsten Weihnachtslieder.
***
Die 50er-Jahre, mit den Kriegen in Korea und Algerien ein an Gräueltaten reiches Jahrzehnt, gingen in die deutschen Geschichtsbücher als die Ära Konrad Adenauers und als eine Zeit des Friedens und Wiederaufbaus ein. Alle, die den Krieg und seine Folgen noch nicht vergessen hatten, setzten ihre Hoffnungen darauf, dass ihnen Ruhe und Ordnung erhalten blieben, und waren entschlossen, als die Kirchenglocken begleitet von ein paar Knallfröschen das Jahr 1960 einläuteten, sich auch weiterhin ruhig und ordentlich zu verhalten. Dass die Kinder, die so brav ihre Hausaufgaben machten und ohne zu maulen auf dem Sonntagsspaziergang hinter ihren Eltern herliefen, in nicht so ferner Zukunft auf die Straße gehen könnten, um gegen die Verhältnisse an den Universitäten, den Krieg in Vietnam und die alten Nazis in hohen Ämtern zu demonstrieren, hätte niemand gedacht.
Ursula war zu Beginn des neuen Jahrzehnts, das für sie lebensentscheidend werden sollte, ein knochiges zehnjähriges Mädchen mit wachen Augen und einem schnellen, treffsicheren Mundwerk. Sie war groß für ihr Alter und hatte von der Mutter die markante Nase und den fahlen Blondton der Haare geerbt. Sie als die Älteste musste auf ihre Geschwister aufpassen, mit Maria Rechnen, Lesen und Schreiben üben und Manfred auf dem Rücken herumtragen, um ihn bei Laune zu halten. Sie hatte keine beste Freundin und für die Spiele der anderen Mädchen in ihrer Klasse weder Begabung noch Interesse.
Um ungestört zu sein, flüchtete sie in eine Abstellkammer imSpeicher, die sie sich mit alten Kissen als Unterschlupf hergerichtet hatte. Hier oben, inmitten von seltenen Steinen, Wurzelhölzern in Gestalt von Gnomen und bunten
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