Der Maskensammler - Roman
Ursula, ihn nachts ins Haus zu holen. Doch der Frieden war nur von kurzer Dauer. Als der Hund eines Morgens jaulend in einer Urinpfütze stand, fielen wieder laute Worte. Katrin zeterte: «Mit der Schubkarre fahre ich ihn in die Kiesgrube!» – Noch bevor Ursula losheulen konnte, sackten Ugo die Hinterbeine weg, er blickte grimmig aus glasigen Augen, die Haare sträubten sich in seinem Nacken, und er kippte klatschend in die stinkende Lache. «Ich ruf den Tierarzt!» Ursula lief davon, um ihr Fahrrad zu holen. Sie wollte sich gerade in den Sattel schwingen, da erschien Katrin in der Haustür: «Den Tierarzt kannst du dir sparen. Er ist verreckt!»
Wo früher der Gemüsegarten gewesen war, war der Boden weich. Dort schaufelte Ursula Ugo ein Grab. Sie spritzte ihn mit dem Schlauch ab, wickelte ihn in seine Decke und rollte ihn unter Tränen in die Grube. Maria kam mit einem Strauß Wiesenblumen angelaufen. Margariten, Löwenzahn und Klee flocht sie zu einer Girlande und warf sie an die Stelle, an der sie Ugos Kopf vermutete.
***
Die Klassenlehrerin hatte sich überlegt, Ursula, ihre beste Schülerin, fürs Gymnasium vorzuschlagen. «Du hast das Zeug dazu», sagte sie und wollte noch ein Lob hinzufügen, aber daraus wurde nur ein «aufgrund deiner guten Noten».
Ursula fühlte sich vor Glück leicht wie eine Feder. Als sie mit der guten Nachricht nach Hause kam, übte Katrin gerade auf der Geige einen Volkstanz. Da wusste Ursula nicht, wie ihr geschah: Ihre langen, sonst so ungelenken Beine sprangen im Takt, sie hüpfte und drehte sich, und hätte Katrin nicht so entgeistert geguckt, hätte sie auch noch einen Purzelbaum geschlagen.
Katrin wusste, was Ursula in ihrem Überschwang gleich sagen würde, und fasste, noch bevor sie die Geige ablegte, einen Entschluss. Sie war stolz auf ihre Tochter, sie gönnte ihr ihren Erfolg. Und doch … da war ein Gefühl, das sie nicht ganz unterdrücken konnte. Ursula würde eine Chance bekommen, die sie nie gehabt hatte: das Abitur machen, studieren, einen Beruf ergreifen, Anerkennung finden. In einer Stadt leben, unter Menschen sein …
Die höhere Schule, ein Gymnasium. Das war mit Kosten verbunden: die Schulbücher, Geld für ein warmes Mittagessen, anständige Kleidung. «Ich kann das nicht bezahlen.» Und dann sagte sie: «Sprich mit deinem Vater!» Ursula stutzte, ihr stockte der Atem. Sie hatte nicht richtig gehört, die Mutter machte Witze. «Vater? Mit welchem Vater?» Die Frage rutschte ihr raus wie ein Schrei. Katrin hielt die Augen gesenkt: «Bernhard Riederer. Der Sohn von Baron Riederer. Er hat … er ist dein Vater.»
Am nächsten Tag wusch sich Ursula die Haare, obwohl es noch nicht Samstag war, kämmte sich sorgfältig, zog ihre schönste Bluse an und ging hinüber ins Jagdhaus.
9. Kapitel
Bernhards Gefühlsreservoir war wie ein Brunnen, dessen Wasserspiegel so weit abgesunken war, dass er als ausgetrocknet galt, obwohl – hätte man in seinen Tiefen geschürft – eine versiegte Quelle zu entdecken gewesen wäre. Der letzte Satz von Antje vor ihrem Abschied hatte ihn erschüttert, aber da er nicht wusste, ob er ihr glauben konnte, hatte sich diese Erschütterung bald gelegt. Die Ungewissheit, ob auf Java ein Kind von ihm lebte, beschäftigte ihn so wenig wie die Frage, ob Antje mit diesem Mann, an dessen Namen er sich schon nicht mehr erinnerte, glücklich geworden war. In den Selbstgesprächen, die er mit seinen Masken führte, ließ er Erinnerungen an sie nicht zu.
Und Katrin? Ihre Nähe hatte er als angenehm empfunden. Ab und zu hatte sie ihm die kalten Glieder massiert, bis ihn eine wohlige Benommenheit überkam. Bei solchen Gelegenheiten hielt er die Augen geschlossen, teils aus Schläfrigkeit, teils, um den Moment der Entspannung ungestört auszukosten. Was Katrin machte, tat ihm gut, sehen, wie es geschah, wollte er nicht. Dass sie schwanger werden könnte, hatte er nicht bedacht, aber auf die Frage des Standesbeamten, ob das Kind von ihm wäre, schien es ihm plausibel, mit Ja zu antworten. Katrin sprach von ihm als «Herr von Riederer», was so klang, als wäre er eine Figur aus der Sammlung deutscher Sagen, die zusammen mit drei anderen Büchern auf Ursulas Nachttisch lag. Wenn Katrin hinüber ins Jagdhaus ging, um nach dem Rechten zu sehen, nahm sie Ursula nicht mit. Sie war die Hausangestellte – dass da einmal mehr gewesen sein musste, deutete sie nicht einmal an.
Fast alle Kinder in Ursulas Klasse hatten einen Vater. Einen Vater zu haben,
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