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Der Maskensammler - Roman

Der Maskensammler - Roman

Titel: Der Maskensammler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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auswendig gelernt von ihren Leistungen in der Schule, der Bereitschaft ihrer Klassenlehrerin, sie für den Besuch der höheren Schule vorzuschlagen, und den damit verbundenen Kosten berichtet hatte, entfalteten sich seine Hände, und er sagte: «Ja, für deine Ausbildung werde ich aufkommen.» Ursula bedankte sich mit einem Knicks. Er erhob sich, sie standen sich wortlos gegenüber. Mit veränderter, weniger rauer Stimme sagte Bernhard, sie sollte morgen wiederkommen, zur gleichen Zeit. Er hätte etwas für sie.
    Seit sie wusste, dass sie einen Vater hatte, war für Ursula die Welt eine andere geworden. Der Mann, von dem sie nicht mehr als den Namen wusste, war ihr noch fremd, er hatte keine Ähnlichkeit mit einem Sioux-Häuptling oder einem Botschafter von einem anderen Stern. Sie hatte keine Erwartungen, jedenfalls keine, die sie hätte in Worte fassen können. Aber der Satz: «Ich bin wohl dein Vater» stellte Normalität her, gab ihr einen Platz, jetzt war mit einem Mal alles richtig. Ihr Herz schien sich zu dehnen, es schlug mit kleinen Erschütterungen, wenn sie an ihren Vater dachte. «Er ist von seiner Entdeckungsreise zurück und übernimmt die Kosten für die höhere Schule», würde sie ihrer Klassenlehrerin sagen.
    Als sie am nächsten Tag pünktlich auf die Fachwerkfassade mit den schweren, schwarzen Balken zuging, erschien sie ihr weniger düster. Sie entdeckte ein Schild, auf dem sie den Spruch «Heiterem Sinn und stiller Freud’ – hab’ ich dieses Haus geweiht» entziffern konnte. Die Eingangstür war geschrumpft, der Griff nicht mehr so kalt, er ließ sich leicht betätigen. In der Diele hörte sie, dass Bernhard ihren Namen rief. Er kam ihr einige Schritte entgegen, in seinen Mundwinkeln lag ein verstecktes Lächeln. «Da bist du ja», sagte er, mehr nicht. In seiner Rechten sah sie eine kleine Schachtel mit abgestoßenen Kanten, die er umständlich öffnete. Aus einer bläulichen Watte zog er eine Brosche in Form einer Libelle hervor, die geschwungenen Flügel mit roten und grünen Steinen besetzt. Er stand jetzt ganz nah vor ihr, sie blickte auf die vereinzelten Barthaare unter seinem Kinn, spürte plötzlich einen kratzenden Schmerz am Arm, war benommen vor Aufregung und zuckte auch nicht zusammen, als er ungeschickt mit dem Handrücken ihre Brust berührte. Auf der Bluse hatte sich schillernd das Insekt niedergelassen.
    Ursula hätte weinen oder einen Jubelschrei ausstoßen, hätte im Boden versinken oder ihm um den Hals fallen mögen. Aber sie rührte sich nicht, stand nur wie angewurzelt und wünschte, dieser Augenblick sollte ewig dauern. «Ein Erbstück», hörte sie Bernhard sagen. «Sie stammt von meiner Mutter.» Dann strich er ihr über den Kopf. Er stutzte, als er den Blutstropfen sah, der ihr den Arm hinunterlief, und flüsterte: «Mein Blut.»
    ***
    Wie gewohnt ging Ursula zur Schule, passte auf ihre jüngeren Geschwister auf und machte im Haushalt, was ihre Mutter ihr anschaffte. Die Veränderungen waren fast unmerklich: kein Erröten, kein gesenkter Blick mehr, ihre Bewegungen wurden runder, ihreAntworten kamen ohne Zögern. Mit einem radikalen Schnitt befreite sie ihre Augen von dem Vorhang der Ponyfransen.
    Jeden zweiten Tag ging sie ins Jagdhaus, Bernhard und sie hatten es so abgesprochen. Er hatte ein Tischchen in die Nähe des Fensters gestellt, sie durfte Bücher aus dem Regal nehmen und dort lesen. Sie verstand nicht alles, was sie las, sog aber alles auf, auch wenn sie die Zusammenhänge nicht begriff. Bis zu hundert Seiten schaffte sie an einem Tag. Mit dem Finger strich sie über die Sphinxen, Nymphen und das Profil antiker Göttinnen auf den vorne eingeklebten Exlibris mit dem Namenszug «Egon Baron Riederer.»
    Bernhard unterbrach sie nicht, er stellte keine Fragen, er wollte nicht wissen, was sie las. Er war in ihrer Nähe, das genügte. Wenn überhaupt, richtete er das Wort an sie wie an eine Erwachsene. Er wollte nicht, dass sie Vater zu ihm sagte, aber sie durfte ihn Bernhard nennen. Ein paarmal versprach sie sich, dann hatte sie sich an das Du gewöhnt.
    Eines Tages lag ein Stapel Skizzenbücher auf dem Wohnzimmertisch. «Ich habe immer gern gezeichnet. Das hier ist nur eine kleine Auswahl. Was du da siehst, ist auf einer Reise entstanden, die ich vor langer Zeit gemacht habe.» Hände. Ein ganzes Heft mit ausgestreckten, gekrümmten, zu Spiralen verdrehten und zu Fäusten geballten Händen. Später dann ab und zu eingestreut eine Frau: hockend, liegend, mit

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