Der Maskensammler - Roman
war normal. Die Jungens gaben mit ihm an, die Mädchen fragten Ursula: «Und deiner? Wo ist denn dein Vater eigentlich?» – «Auf Entdeckungsreise», sagte sie. Und ein andermal: «Er ist im Krieg gefallen.» In welchem Krieg, blieb offen. Keinen der Männer, die sie kannte, hätte sie sich als Vater gewünscht. Auch Jean-François nicht. Sie beneidete ihre Geschwister nicht, dass der ihr Vater war.
Um sich vor dem Einschlafen zu beruhigen, legte sie eine Hand auf die warme Stelle zwischen ihren Beinen und dachte sich Geschichten aus, die sie in ihrer Phantasie immer wieder durchspielte: Da war das Kind der Prärie, Sioux-Indianer hatten es ausgesetzt an einem Fluss gefunden. Oder: hatten es aus einem brennenden Blockhaus gerettet. Oder: hatten es bei einem Überfall auf weiße Siedler geraubt. Sie färbten seine Haare schwarz, malten ihm mit roter Kreide die Zeichen von Schutzgeistern auf die Haut und brachten ihm bei, so aus dem Sattel zu rutschen, dass es ungesehen an einem Feind vorbeigaloppieren konnte. Das Kind hieß Alusru, was «Friede» bedeutete. Es lebte in der Familie des Häuptlings und war der Liebling des weisen, mutigen Mannes, der nicht zuließ, dass ihm irgendein Leid geschah.
An anderen Abenden war sie selbst alt und weise. Sie lebte mit ihrer Gefolgschaft tief im Wald in einem Labyrinth unterirdischer Gänge, die für den Eingeweihten zu einem Thronsaal führten. Dort, auf einem mit Bergkristallen geschmückten Lager aus Wurzeln und Moos, traf sie ihre Entscheidungen: Tiere mussten aus ihrer Gefangenschaft bei bösen Menschen befreit, oder Eltern, insbesondere gewissenlose Väter, für ihre Untaten bestraft werden. Oder sie gab an der Spitze ihrer Getreuen den Armen zurück, was ein paar Reiche ihnen genommen hatten.
In wieder anderen Träumen gab sich ein Mann von einem anderen Stern als ihr Vater zu erkennen. Er landete in seinem silbernglänzenden Ballon an einem entlegenen Ort, den nur sie kannte. In einer wortlosen Sprache erklärte er ihr alle Geheimnisse des Universums. Er nahm sie mit auf Zeitreisen in frühere Jahrhunderte. Mal zeigte er ihr den einbalsamierten, aber nur scheintoten Pharao in seinem goldenen Sarg, mal führte er sie in die Gefängniszelle der Jungfrau von Orléans, die am nächsten Tag auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte, mal schmuggelte er sie als Mongolin verkleidet in die Horden des Dschingis Khan. Von ihm erfuhr sie Dinge, die kein anderer Mensch wissen konnte. Die großen Gelehrten dieser Welt verbeugten sich vor ihr, sie aber gab ihr Wissen nicht preis. Mit Strahlen, die aus ihrem Gehirn schossen, übertrug sie all ihre Kenntnisse auf eine durchsichtige Wunderkugel, die sie auf dem Grunde eines Brunnens von einem giftigen Fisch bewachen ließ.
Bernhard war für Ursula wie eine Erscheinung, ein Wesen, weder alt noch jung, weder Mann noch Frau, eng verbunden mit dem alten Haus, das ihr unheimlich war. Über die Jahre verteilt hatte sie ihm einige Male etwas bringen müssen. Scheu hatte sie es in der Diele abgestellt und ihn wie eine Figur, übriggeblieben aus einer anderen Zeit, im Wohnzimmer sitzen sehen. Und da sie nicht wusste, wie Tote aussehen, hatte sie ihn für so etwas Ähnliches wie einen Toten gehalten. Aber dann stand er auf dem Balkon, als sie von der Schule kam, und schien nichts wahrzunehmen. Wenn sie ihn grüßte, grüßte er nicht zurück.
Jetzt stand sie vor ihm.
***
Aus einem kleinen, hoch gelegenen Fenster fiel ein Lichtstrahl in den dämmrigen Raum. Ursula sah die aufgewirbelten Staubfäden, die Leberflecken auf Bernhards gefalteten Händen und die schweren Schuhe, von denen man denken konnte, sie wären Teileiner Rüstung. Zu dem Gesicht hinter dem Lichtstrahl sagte sie die Sätze, die sie sich für diesen Moment zurechtgelegt hatte. In dem Ton einer Prinzessin aus ihrem Sagenbuch sagte sie: «Von meiner Mutter habe ich erfahren, dass Sie mein Vater sind und ich Ihre Tochter bin.» Der Satz stand in der Stille zwischen ihnen, die Welt draußen schien stillzustehen. Endlich sagte Bernhard: «Ja, es ist richtig, ich bin wohl dein Vater.» Es klang wie aus einer Sprechmaschine. Er spürte, dass er jetzt etwas tun müsste. Er müsste aufstehen, dem Mädchen den Arm um die Schultern legen und es auf die Stirn küssen. Das wäre ein Zeichen, ein Bekenntnis gewesen, gewichtiger als die Worte. Stattdessen kämpfte er gegen die Versuchung an, eine Grimasse zu schneiden, um sich aus seiner Starre zu lösen. Und erst, als sie wieder wie
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