Der Maskensammler - Roman
denken. Und als er sie aus dem Fenster blicken ließ, um sie von hinten zu malen, lachte sie. Sie lachte zum ersten Mal in Gegenwart ihres Vaters.
***
Nachdem Ursula gegangen war, malte Bernhard weiter. Sein Strich wurde schneller, die Figuren füllten die großformatigen Blätter ganz aus. Sie schienen sich gegen die Ränder zu stemmen, als wollten sie die Rahmen sprengen. In ihrem Inneren begann es zu brodeln. Blasen stiegen auf, die er mit einem Stift rot umrandete. Die Gestalten mit den knorpeligen Auswüchsen an ihrem Hinterteil, mit den hängenden oder über die Schultern geworfenen Brüsten und den geschwollenen Geschlechtsteilen lagen um ihn verstreut auf dem Boden, umkreisten ihn, besetzten wie ein feindliches Heer seine Phantasien. Sein Gesicht zuckte. Mit Strichen, die er durch die entstellten Körper trieb, setzte er sich zur Wehr, mit hektisch hingeworfenen Kreisen, die er ihnen wie Henkerseile um den Hals legte. Irgendwann brach der Kreidestift, Bernhard sackte erschöpft zusammen.
Am nächsten Morgen trieb es ihn aus dem Bett. Er musste, noch bevor Katrin kam, die Bilder in Sicherheit bringen. Mit dem Schlüssel in der Hand stand er vor der Waffenkammer. Er musste die Tür öffnen, auch wenn drinnen sein Vater, grau und mit steinernem Blick, auf ihn wartete. Ohne Licht zu machen, warf er die Blätter in eine Ecke. Sie segelten durch die abgestandene Luft, blieben auf Regalbrettern und an Gewehrläufen hängen, verteilten sich zu seinen Füßen. Da meinte er ein Ächzen zu hören. Entsetzt sprang er auf und stürzte davon.
Als Ursula von der Schule kam, stürzte Katrin auf sie zu. Sie hatte die Bilder gesehen. Die Tür der Waffenkammer war offengestanden. «Hat er dich berührt?» Sie schrie. Ursula blickte sie verständnislos an. Etwas ruhiger geworden, wollte Katrin wissen: «Was hat er mit dir gemacht? Hat er Unkeusches mit dir getrieben?» – «Nein», sagte Ursula. Und dann noch einmal: «Nein! Du spinnst.» Katrin beruhigte sich langsam: «Dann schau, dass er dir das Geld für die Schule gibt.»
An schlechten Tagen trank Katrin. Allein trank sie an gegen Aussichtslosigkeitund Enttäuschungen. Sie glaubte, die Schuldigen zu kennen. Aus Wut auf die Männer griff sie zur Flasche. Der Alkohol lähmte sie, eine brennende Übelkeit machte sich in ihr breit. «Ich will hier raus!», stöhnte sie. Der Riss in ihrem Leben wurde breiter.
Ursula und Maria, die ungleichen Schwestern, standen hilflos am Rande des Abgrunds, der sich da auftat. Sie verkrochen sich, wenn Katrin wütete. Um sich gegen deren willkürliche Attacken zu schützen, bildeten sie eine Notgemeinschaft. Die eine machte die Wäsche, spülte und stopfte die zerschlissenen Socken, die andere schrubbte den Boden, putzte das Klo und holte den schweren Korb mit Brennholz. An diesen schlechten Tagen rührten sie ihre Mutter nicht an, als hätte die eine ekelerregende Krankheit. Beide leisteten sie Widerstand, Ursula offen, auch wenn die Mutter sie dafür schlug. Maria nahm Zuflucht zu Unwahrheiten, um Katrin zu besänftigen. «Du lügst. Du bist nicht meine Schwester», sagte Ursula.
Endlose Stunden musste Ursula auf Manfred aufpassen. Wenn er sich wieder einmal an sich zu schaffen machte, ließ sie ihn, um ihn abzulenken, raten:
«Es hat zwei Flügel und kann nicht fliegen,
es hat einen Rücken und kann nicht liegen,
es hat ein Bein und kann nicht stehen,
es kann wohl laufen, aber nicht gehen.»
Von der Zuwendung der Schwester beglückt, hellte sich sein Gesicht auf, für einen Augenblick war Frieden. Auch Ursula konnte kurz lächeln: «Na, was ist das?» – Manfred tat so, als müsse er nachdenken, wartete, kostete den Moment der Einigkeit aus und sagte schließlich mit glänzenden Augen: «Die Nase.»
An einem windstillen Tag im Herbst verbrannten sie im Garten Laub und trockene Äste. Träge stieg Rauch auf und legte sich über die Wiesen als duftender Nebel. Katrin hatte eine Schüssel mit Kartoffeln bereitgestellt, die man später, nach der Arbeit, in die Glutunter der grauen Asche schieben würde. Sie nahmen den Geruch des Waldes an, schmeckten süßlich nach Moos und Pilzen, die gesalzene Butter schmolz auf der heißen Schale. Dazu trank man Dickmilch. Es sollte ein Fest werden.
Maria hatte wie immer ihre Puppe Susi dabei. Sie setzte sie auf einen Holzklotz, damit sie es am Feuer schön warm hatte. Eicheln platzten wie Patronen in der Glut, kleine Rußfetzen segelten durch die Luft. Manni hockte übergroß im Kinderwagen und
Weitere Kostenlose Bücher