Der Maskensammler - Roman
unabhängig, für mich ist der Kongress wie Kino. Gleich wirst du Gerd und Rosa, unsere Aktivisten, in Hochform erleben.»
In der Halle herrschte großes Gedränge. Mittendrin sah sie Gerd, Hände schüttelnd, Schultern klopfend, schwitzend. Als er sie sah, lächelte er ihr zu und hob die Rechte mit den zum Siegeszeichengespreizten Fingern in ironischer Übertreibung. «Die Jungens! Sie spielen Revolution», hatte die Frau an ihrem Tisch gesagt.
Gerd bahnte sich seinen Weg zu einem Podium, auf dem ein Pult und ein langer Tisch mit Mikrofonen standen. Darüber hing, geschmückt von einem roten Stern, ein Transparent mit der Aufschrift: «Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen.» Ursula suchte sich einen Platz an der Wand und setzte sich, wie alle anderen, auf den Boden. Sie wusste nicht, worum es hier ging, zu fragen traute sie sich nicht. Die Leute in ihrer Nähe redeten heftig gestikulierend aufeinander ein, niemand beachtete sie. «Ruhe!», rief jemand in ein Mikrofon. Und als das nichts nützte, noch einmal: «Ruhe! Genossen und Genossinnen, wir wollen anfangen.»
Von dem, was jetzt folgte, blieb Ursula eine nur ungenaue Erinnerung. Sie beobachtete Gerd, der einen quer gestreiften Pullover trug und mit dem Mikrofon auf dem Podium wie ein Schlagersänger wirkte. Aber gut sah er aus da oben, er war … ja, er war mitreißend. Er sprach von Protest und Widerstand, von einer Solidarisierung mit der Arbeiterklasse und ballte seine Faust für einen Sieg der vietnamesischen Revolution. Als ihm die Stimme rau wurde, drückte er einem anderen das Mikrofon in die Hand, den er als Abgesandten des Berliner SDS vorstellte: «Holger war dabei, als die Schüsse auf Rudi abgefeuert wurden. Er hat ihn in seinem Blut liegen sehen. Er liest jetzt eine Passage aus der letzten Rede, die Rudi vor dem Attentat gehalten hat, und sein Aufruf richtet sich auch an uns.» Der Angekündigte war blass und schmal und wirkte hinter dem Pult zierlich, er sprach langsam, leise, betonte jedes Wort: «Los, meine Kampfgefährten, es ist besser, wenn wir uns sofort entschließen, den Kurs zu ändern. Die große Nacht, in der wir versunken waren, müssen wir abschütteln und hinter uns lassen. Der neue Tag, der sich schon am Horizont zeigt, muss uns standhaft, aufgeweckt und entschlossen antreffen.» – AnhaltenderApplaus, wieder redeten alle durcheinander, bis erneut Gerd eingriff. Er bat um eine Schweigeminute für den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King, «in Memphis/Tennessee von einem weißen Attentäter feige ermordet». Anschließend wurde eine rote Fahne ausgerollt und die Grußbotschaft einer revolutionären Studentengruppe der Pariser Sorbonne verlesen. Zum Schluss hatte wieder Gerd das Wort: «Morgen, um zwölf Uhr mittags, findet als Zeichen des Protests und der Solidarität mit den Genossen …» – «Und den Genossinnen!», rief eine Frauenstimme – «… in anderen Unistädten auf dem Platz vor der Uni ein Sit-in statt. Wir werden für eine Stunde den Eingang zum Hauptgebäude blockieren. Kommt alle! Zieht euch warm an, aber kommt alle! Und bringt eure Freunde und Freundinnen mit.»
Ursula kam sich vor wie in einem Ameisenhaufen. Die einen drängten zu dem langen Tisch, andere auf den Ausgang zu. Rufe, gut gelaunte Rempeleien, Lachen. Bierflaschen machten die Runde, die revolutionäre Stimmung verflog. Ursula wurde zur Seite geschoben. Sie war es nicht gewöhnt, sich in einer Menschenmenge zu bewegen. Wieder fühlte sie sich fremd. Und außerdem gab es einen peinlichen Umstand, der ihr schon in der Straßenbahn aufgefallen war: Sie war größer als die anderen, sie blickte auf ein Durcheinander von langen Haaren und Köpfen herab, die in Kapuzen steckten.
Auf dem Podium winkte eine Frau in ihre Richtung. Ursula wusste nicht, ob sie gemeint war, erst als sie vor dem Podest stand, erkannte sie Rosa. «Komm, trag dich in unsere Liste ein!» Name, Vorname, revolutionärer Name … «Wer ist dein revolutionäres Vorbild? Wenn du eine von uns bist, kannst du deinen bürgerlichen Namen ablegen. Nenn dich Simone, nach der Beauvoir.» Ursula zuckte die Achseln, ließ die Spalte frei, gab als Studienfach Soziologie an und machte bei Zahl der Semester einen Strich. Und weil sie dazugehören wollte, unterschrieb sie.
Ursula sah sich nach Gerd um. Der rief: «Hier bin ich!», legte ihr den Arm auf die Schulter. «Willkommen, Genossin!» Er wirkte entspannter als vor der Veranstaltung. Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher