Der Maskensammler - Roman
besetzt, bis auf einen. An ihm saß eine Frau, die gerade sorgfältig ein Butterbrotpapier zusammenfaltete und, ohne aufzublicken, sagte: «Es ist erst ab fünfzehn Uhr geöffnet.» – «Entschuldigung! Ich wollte nur fragen, wie finde ich Raum 203?» Die Frau fuhr mit dem Nagel ihres Zeigefingers an der Kante des Butterbrotpapiers entlang. «In diesem Haus gibt es Hinweisschilder … Zweites Obergeschoss rechts.»
Der Flur im zweiten Stock war fensterlos und wurde von Sparlampen nur notdürftig erleuchtet. 203 war ein kleinerer, nach Norden gelegener Raum, in dessen Mitte u-förmig schmale Tische standen. Ursula ging zaghaft ein paar Schritte, wie gelähmt von dem Gefühl, hier fremd zu sein, und etwas zu tun, zu dem sie kein Recht hatte. An den Längsseiten der Tische saßen je sechs Studenten, einige über ihre Kolleghefte gebeugt, einige mit ihren Fingernägeln beschäftigt. Aus den Augenwinkeln beobachteten sie Ursula. Keiner sagte ein Wort. Sie wäre am liebsten gleich wieder gegangen, aber da stand einer auf, der seinen Platz an der Kopfseite hatte, und kam auf sie zu. Es war Phillip. Kein Wort der Begrüßung, nicht einmal ein Lächeln. Er rückte einen Schemel heran und flüsterte: «Hier, setz dich. Der Professor kommt gleich. Wenn es zur Diskussion kommt, solltest du dich nicht beteiligen.» Dann stellte er sich in der Nähe der Tür auf. Diffuses Licht fiel durch die vom Stadtstaub grauen Fensterscheiben. Man hörte das Gurren von Tauben, sonst hörte man nichts.
«Guten Tag, Herr Professor Wickenburg!» Phillip hielt einem zierlichen, altersgebeugten Mann die Tür auf. Stühlerücken, die Studenten erhoben sich zu seinem Empfang. Mit kurzen Trippelschritten ging er zu seinem Platz, einem Stuhl mit Armlehne und Sitzkissen, an der Stirnseite, begrüßte mit einem Kopfnicken die Runde und sagte: «Aber bitte! Setzen Sie sich doch!» Wieder Stühlerücken. Ursula wagte kaum zu atmen, hätte der Professorsie entdeckt, sie hätte keinen Satz hervorgebracht. Der aber legte mit einer seit Jahrzehnten zur Gewohnheit gewordenen Geste sein Manuskript vor sich hin und zog umständlich aus der Brusttasche seines Jacketts eine Brille, die er jedoch nicht aufsetzte.
«Mit wachsender Sorge beobachte ich, wie eine kleine Schar von Wirrköpfen versucht, die Ordnung an unserer Alma Mater zu stören. Dabei garantiert gerade diese Ordnung, dass hier ein jeder seinen Platz finden kann: die Studierenden aller Fakultäten ebenso wie die Mitglieder des Lehrkörpers. Diese Ordnung darf nicht angetastet werden. Nach den Turbulenzen des Krieges und der Zerstörung unseres Landes war es vordringliches Ziel, Recht und Ordnung wiederherzustellen. Auch und vor allem an den Universitäten. Dieser neuen Ordnung verdankt eine erste Generation ihre akademische Ausbildung. Diese Ordnung gilt es zu verteidigen.»
Während er sprach, musterte er mit wachem Blick die Studenten, wie um sich zu vergewissern, dass sich in sein Proseminar kein Wirrkopf eingeschlichen hatte. Dann rückte er mit einem schnellen Griff die Blätter seines Manuskriptes zurecht, als wollte er beweisen, dass auch in kleinen Dingen das Gebot der Ordnung galt. Die Spannung in seinem Oberkörper ließ nach, er machte es sich in seinem Stuhl bequem und setzte nun seine Brille auf. «Gehen wir in medias res!»Wieder ein Kopfnicken, diesmal in Richtung Phillip. «Herr … Assistent, Sie haben das Wort.»
Phillip nahm Haltung an und sagte eine Spur lauter als notwendig und mit stark rollendem ‹R›: «Leutner und Gramberger haben zum Thema ‹Zyklisches und/oder lineares Weltbild› Referate von je zwanzig Minuten ausgearbeitet. Ihr Inhalt ist mir bekannt.» – «Sie mögen vortragen.»
Leutner, eine Studentin, las ihren Text geradezu hastig vom Blatt ab, als wolle sie die Angelegenheit möglichst schnell hintersich bringen. Sie verhaspelte sich mehrfach, Ursula hatte Schwierigkeiten, ihr zuzuhören. Gramberger reihte These an These, die er aber wegen der Kürze der vorgegebenen Zeit meinte nicht ausführen zu können. Professor Wickenburg verfolgte die Vorträge scheinbar aufmerksam. «Nicht übel», sagte er abschließend, merkte dann aber an, beide Referate hätten einen wesentlichen Aspekt nicht berücksichtigt, dass nämlich im östlichen, insbesondere im chinesischen Weltbild das zyklische, während im Abendland das lineare Denken vorherrsche. Nachdem die Worte des Professors verklungen waren, meldete sich aus der Reihe rechts von ihm ein Student, indem er artig
Weitere Kostenlose Bücher