Der Maskensammler - Roman
Sommersprossen, volle Lippen und stieß, wenn er nicht gerade in ein Mikrofon sprach, mit der Zunge an. «Als Neu-Revolutionärin musst du eine Bewährungsprobe bestehen. Schau, hier ist ein Packen Flugblätter. Du verteilst sie morgen vor dem Sit-in auf dem Uni-Gelände.» Ursula verstaute die Flugblätter in ihrer Umhängetasche. Sie würde sie verteilen. Sie würde es ihm zuliebe tun.
Die Flugblätter trugen fett gedruckt die Überschrift: «Wir fordern unser Recht auf Mitbestimmung!» Den Text, der folgte, las Ursula nur flüchtig. Die Schlusszeile lautete: «Unter den Talaren – der Muff von tausend Jahren.» Sie lachte, das gefiel ihr.
***
Am nächsten Vormittag stand Ursula fröstelnd im Schutz einer Säule unter einem der Rundbögen. Nicht alle Studenten griffen nach den Zetteln, die sie ihnen hinhielt. Es wurden Fragen gestellt, auf die sie erst keine Antwort wusste, dann aber erinnerte sie sich an Sätze, die Rosa gestern in den Saal gerufen hatte: «Wir fordern Demokratisierung statt alter Ordinarienherrlichkeit! Mitsprache statt Vorschriften! Wir kündigen der akademischen Obrigkeit die Gefolgschaft auf!» Der letzte Satz stammte von ihr, die noch nie eine Vorlesung gehört hatte. Um sich Mut zu machen, rief sie ihn gleich ein zweites und noch ein drittes Mal. Jetzt gehörte sie dazu. Eine Windböe trieb weggeworfene Zettel wie trockenes Laub über den Vorplatz. Als jemand aus einiger Entfernung ein Foto von ihr machen wollte, wandte sie den Kopf ab.
Plötzlich stand Gerd vor ihr. Er hielt ihre Hand, und sie ließ es zu, dass er sie zu sich hinzog. Er gab dem, was hier geschah, einen Sinn und ihr das Gefühl, mit den anderen für eine gute Sache zukämpfen. Über seine Schulter sah sie Rosa, die mit vorgestrecktem Arm kurze Rufe ausstieß: «Verteilt euch! Bildet Reihen! Hakt euch unter! Setzt euch hin!» Wie unbeteiligt stand Holger abseits in der Nähe des Haupteingangs. Ursula winkte ihm mit den letzten, übriggebliebenen Flugblättern, aber er reagierte nicht.
Eine unwirkliche Stille lag über dem Platz. Ein Taubenschwarm flog mit klatschenden Flügeln über die hingekauerten Protestierer. Der Straßenlärm war verstummt. Mannschaftswagen der Polizei versperrten die Fahrbahn, die Glocken der nahen Kirche schlugen zwölfmal.
Gerd knipste ein Megafon an: «Wir protestieren gegen die Allmacht der Professoren! Sie verwalten ihre Lehrstühle wie mittelalterliche Pfründe. Wir solidarisieren uns mit den Assistenten, denn auch sie werden in persönlicher Abhängigkeit gehalten. Wir fordern die Herren Professoren auf, sich einer offenen Diskussion mit uns zu stellen.» Als wüsste er nicht weiter, blickte er sich nach Holger um. Der schrieb mit ausgestrecktem Zeigefinger ein Wort in die Luft, das Ursula nicht verstand. Sie saß zu Füßen von Gerd, dessen Stimme sich überschlug, als er rief: «Es geht los! Sie kommen!» Sie schluckte, um einen salzigen Geschmack von ihrer Zunge zu lösen.
Das schwarze Ungetüm, der Wasserwerfer, schob sich von links ins Blickfeld und fuhr wie in Zeitlupe auf die auf dem Pflaster sitzenden Studenten zu. Die rückten dichter zusammen, duckten sich in ihren Windjacken, zogen die Köpfe zwischen die Schultern.
«Der Platz ist unverzüglich zu räumen und der Zugang zum Universitätsgebäude freizugeben! Ich wiederhole.» Die Lautsprecherstimme wurde von den Mauern zurückgeworfen und prasselte auf die zu einer grauen Masse verschmolzenen Körper herab. Hinter den Spitzbogenfenstern zeigten sich Gestalten, die sich das Schauspiel nicht entgehen lassen wollten. Nach der Durchsage trat wieder Stille ein. Rechts und links, als folgten sie einem unabänderlichenRitual, nahmen je ein Dutzend Polizisten Aufstellung, an ihren Gürteln baumelten Schlagstöcke. Auf der gepanzerten Verkleidung des Wasserwerfers spiegelte sich die Mittagssonne, sein Motor heulte auf, als er einige Meter weiter nach vorne rollte. Das Rohr auf dem runden Aufbau suchte sich sein Ziel.
«Rudi! Lang lebe Rudi Dutschke!», rief jemand. Es klang wie ein Verzweiflungsschrei.
Der Strahl kam zischend über das Pflaster und traf die vorne in der Mitte Sitzenden. Neben Ursula versuchte einer, sein Gesicht zu schützen, wurde weggerissen und kippte nach hinten. Dann spürte sie einen trommelnden Schmerz auf der Brust, wollte schreien, bekam keine Luft, wälzte sich zur Seite und blieb mit der Stirn auf einem kalten Stein liegen. Der Strahl wanderte weiter, aber sie sah, dass das schwere Fahrzeug auf sie
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