Der Matarese-Bund
denen ich nicht zurechtkam. Wenn Sie einverstanden sind, gehe ich jetzt hinein.«
»Gehen Sie ruhig, schicken Sie mir meine Frau heraus.«
Scofield berührte Antonias Wange. Sie lag immer noch auf dem Bett, rollte den Kopf aber zur Seite, als er sie berührte. Ihre Lippen öffneten sich; sie stöhnte protestierend. Die Dinge waren jetzt tatsächlich klarer, das Rätsel, das Antonia Gravet war, begann sich aufzuklären. Klarheit war es, was ihm gefehlt hatte; er hatte nicht durch die undurchsichtige Glaswand sehen können, die sie zwischen sich und der Außenwelt aufgerichtet hatte. Die befehlsgewohnte Frau in den Hügeln, die Mut an den Tag legte, ohne die dazu erforderliche Stärke zu besitzen. Auf der anderen Seite die Frau, die vor einen Mann treten konnte, von dem sie glaubte, daß er sie töten wollte, und ihm sagen konnte, er solle doch schießen. Die kindhafte Frau auf dem Trawler, vom Meerwasser durchnäßt, die plötzlich zu geradezu ansteckendem Gelächter fähig war. Das Gelächter hatte ihn verwirrt; jetzt verwirrte es ihn nicht mehr. Das war ihre Methode, sich kurze Perioden der Erleichterung zu verschaffen, Perioden, in denen die Welt um sie normal sein sollte. Das Boot war für sie eine kurzzeitige Zuflucht; solange sie auf See war, konnte niemand ihr weh tun. Darum hatte sie die kurze Seereise genossen. Ein mißhandeltes Kind – oder eine Gefangene –, der man eine Stunde frischer Luft und Sonne zugebilligt hatte. Man mußte die Augenblicke nehmen und Freude in ihnen finden. Und wäre es nur, um kurze Zeit zu vergessen.
Ein gequälter Geist pflegte so zu reagieren. Scofield hatte zu viel solcher gequälter Existenzen gesehen, um das Syndrom nicht zu erkennen, sobald er einmal begriffen hatte, was die Narben bedeuteten. Der Arzt hatte den Satz gebraucht, »eine Menge Verwirrung in ihrem hübschen Köpfchen«. Was konnte man schon erwarten? Antonia Gravet hatte ihre eigene Ewigkeit in einem Labyrinth des Schmerzes verbracht. Daß sie überlebt hatte und nicht zerbrochen war, war nicht nur bemerkenswert… das war das Zeichen eines Profis.
Seltsam, dachte Bray, aber dieser Schluß war das höchste Kompliment, zu dem er fähig war. In gewisser Weise machte es ihn krank.
Sie schlug die Augen auf und blinzelte verängstigt; ihre Lippen zitterten. Dann schien sie ihn zu erkennen; die Angst wich, und das Zittern hörte auf. Wieder berührte er ihre Wange, und ihre Augen spiegelten die Erleichterung wider, die sie bei der Berührung empfand.
»Grazie«, flüsterte sie. »Danke, danke, danke…«
Er beugte sich über sie. »Ich weiß das meiste«, sagte er leise. »Der Arzt hat mir gesagt, was die Ihnen angetan haben. Jetzt sagen Sie mir den Rest. Was geschah in Marseille?«
Tränen stiegen in ihre Augen, und das Zittern fing wieder an. »Nein! Nein, das dürfen Sie mich nicht fragen!«
»Bitte. Ich muß es wissen. Die können nicht an Sie heran; nie wieder werden die Sie berühren.«
»Sie haben ja gesehen, was sie tun! O Gott, der Schmerz…«
»Das ist vorbei.« Er tupfte ihr die Tränen mit den Fingern weg. »Hören Sie mir zu. Ich verstehe jetzt. Ich habe etwas Dummes zu Ihnen gesagt, weil ich es nicht wußte. Natürlich wollten Sie weg, wollten Sie wegbleiben, sich isolieren – sich sozusagen von der Menschheit lossagen –, ich verstehe das, aber verstehen Sie denn nicht? Das können Sie nicht. Helfen Sie uns, die aufzuhalten, helfen Sie mir, die aufzuhalten. Die haben Ihnen so viel angetan. Lassen Sie sie dafür bezahlen, Antonia. Verdammt noch mal, werden Sie wütend. Wenn ich Sie ansehe, werde ich selbst wütend!«
Er war nicht sicher, was es war; vielleicht die Tatsache, daß er echtes Mitgefühl für sie empfand. Er versuchte nicht, dieses Gefühl zu verbergen. Es war in seinen Augen, in seinen Worten; er wußte es. Was auch immer es war, die Tränen versiegten. Ihre braunen Augen leuchteten, so wie sie auf dem Trawler geleuchtet hatten. Jetzt schoben sich Wut und planvolles Denken an die Oberfläche. Sie berichtete ihm den Rest.
»Ich sollte die Drogenhure sein«, sagte sie. »Die Frau, die mit dem Kurier reiste, beobachtete und ihren Körper jederzeit bereithielt. Ich sollte mit Männern – oder Frauen, das machte keinen Unterschied – schlafen und alles für die tun, was sie noch verlangten.« Antonia zuckte zusammen. Die Erinnerung mußte ihr weh tun. »Die Drogenhure ist für den Kurier wertvoll. Sie kann Dinge tun, zu denen er nicht imstande ist, kann Tarnung sein; Preis und
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