Der Medicus von Heidelberg
Hand, als wolle er es niemals wieder hergeben.
»Das glaube ich auch«, sagte ich. »Ich habe die Kreuze aber noch aus einem anderen Grund gekauft: Für dich, weil du dein Examen bestanden hast, und für mich, weil ich mir selbst etwas schenken wollte. Ich hatte am zehnten Februar Geburtstag – ohne dass ich oder jemand anders es mitbekommen hätte, denn ich lag ja mit Kopffieber darnieder.«
Luther setzte ein feierliches Gesicht auf und gab mir die Hand. »Herzlichen Glückwunsch nachträglich, Lukas. Und Gottes Segen.«
»Danke.«
»Wie alt bist du denn geworden?«
»Neunzehn.«
»Gütiger Himmel! Ich bin zwei Jahre älter als du und habe erst jetzt meinen Magister gemacht.«
Wir gingen weiter. »Ich hatte das Glück, schon sehr früh die Lateinschule beim alten Prälaten Bindschedler in Frauenfeld besuchen zu können«, sagte ich. »Vielleicht liegt es daran.«
»Ja, vielleicht. Obwohl auch ich schon sehr früh auf die Lateinschule in Mansfeld ging. Aber das war verlorene Zeit. Die Schule glich einem Eselstall und Teufelsloch, geleitet von Tyrannen und Stockmeistern. Es gab einen Morgen, an dem ich nicht weniger als fünfzehn Mal mit der Rute geschlagen wurde, nur weil ich bei dem Wort
domus
statt der u- die o-Deklination angewandt hatte.«
»Das war gewiss keine leichte Zeit für dich.«
»War es nicht, Gott ist mein Zeuge. Die Schüler waren ein zusammengewürfelter Haufen, und der Unterricht ging nur so schnell voran, wie der Dümmste es zuließ. Deutsch wurde überhaupt nicht gelehrt, ebenso wenig wie andere Fächer, und der Religionsunterricht bestand im Großen und Ganzen aus dem Herunterleiern des Heiligenkalenders.«
»Du klingst sehr bitter.«
»Es war auch eine bittere Zeit. Später kam ich dann nach Magdeburg auf die Schule. Sie hieß ›Brüder vom gemeinsamen Leben‹. Dort war es besser, obwohl ich mir einen Teil des Unterhalts als Kurrendesänger verdienen musste.«
»Kurrendesänger? Was ist das?«
»Kennt Ihr Eidgenossen so etwas nicht? Darunter versteht man einen Chorsänger. Die Chorsänger ziehen mitunter von Haus zu Haus, singen bei Feiern oder bei Beerdigungen und verdienen sich so einen Obolus. Sag mal, wo kommen plötzlich die vielen Menschen her?«
Auch mir war aufgefallen, dass sich die Straße zusehends belebte. »Ich glaube, sie haben alle dasselbe Ziel. Lass uns nachschauen, was es da gibt.«
Wir folgten den Leuten und gelangten zu einem Dorfplatz, in dessen Mitte ein überaus beleibter Priester stand und mit tönender Kanzelstimme predigte. »Da war ein Wucherer, ihr guten Leute, der doppelt Zins nahm, wo er nur einfach hätte nehmen dürfen, denn so liest der Gottesfürchtige es im dritten Buch Mose, wo der Bruder den Bruder in Liebe und Barmherzigkeit aufnehmen soll und der Herr ihm folgende Worte weist:
Und sollst nicht Wucher von ihm nehmen noch Übersatz, sondern sollst dich vor deinem Gott fürchten, auf dass dein Bruder neben dir leben könne!
Da war ein Dieb, der nicht bereute und nicht wusste, was die Schrift uns sagt. Denn so steht es geschrieben:
Da sprach seiner Jünger einer: Judas, Sohn Ischariots, warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihundert Groschen und den Armen gegeben? Der aber war ein Dieb und hatte den Beutel und trug, was gegeben ward!
Da war ein Mörder, der glaubte, Gerechtigkeit geübt zu haben, doch er irrte sträflich, denn er kannte nicht, was bei Mose im Buch der Bücher steht:
Wer jemand mit einem Eisen schlägt, dass er stirbt, der ist ein Totschläger und soll des Todes sterben.
Ja, so heißt es, ihr guten Leute, und alle drei Genannten wären schon lange in den Fängen des Satans, würden in der Hölle schmoren, wären Bein für Bein jämmerlich zu Asche verbrannt, wenn sie nicht zu mir, Splendorius, dem geweihten Priester im Orden der ruhmvollen Dominikaner, gekommen wären und mit meiner Hilfe den Zorn des Herrn besänftigt hätten. Sie gaben, was sie konnten, für Gott den Allmächtigen, zu seinem Ruhme, zu seiner Ehre, denn höret, das ist sein Versprechen: Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt!«
Wir drängten uns heran und entdeckten am Boden einen länglichen Kasten, fast so groß wie ein Sarg und auch ähnlich in der Form, bemalt mit bunten Fratzen und Figuren, die den Teufel mit den armen Seelen im Fegefeuer darstellen sollten. Der Kasten war aus schweren Holzplanken gezimmert und mit eisernen Scharnieren sowie drei massiven Schlössern gesichert. Splendorius öffnete sie in diesem
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