Der Medicus von Heidelberg
alles, mein Kopf brummte. Ich vermutete, dass ich eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Wahrscheinlich hatte die strenge Nonne recht gehabt, als sie mich aufforderte weiterzuschlafen.
Ich wartete eine Weile und ging dann mit staksenden Schritten hinüber zu meinem Lehrer. Wentz lag, das Gesicht halb verbunden, in seinem Bett. Sein linker Arm ruhte fixiert in einer Bruchlade. Er war wach. »Johann«, sagte ich leise, »wie geht es dir?«
»Lukas«, fragte er verwundert, »du bist aufgestanden?«
»Wie du siehst.« Trotz meines Schwindelgefühls musste ich grinsen. Eine so überflüssige Frage hätte mein Lehrer unter normalen Umständen nicht gestellt. »Was fehlt dir?«, wollte ich wissen.
»Ach, nichts weiter. Ein paar Kratzer im Gesicht und ein glatter Bruch von Elle und Speiche. Die Knochenflicker haben alles wieder geradegezogen und geschient, wie du siehst.«
Ich sah mir das Werk der Wundärzte genau an und fragte dann: »Hast du Schmerzen?«
»Ach, es geht.« Er bewegte sich mühsam, um seine Lage zu verändern. »Die Schwester, dieser weibliche Drache, hat mir Mohnsaft gegeben. Damit lässt sich’s ertragen.«
»Was ist denn in deinem Haus geschehen? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.«
»Das glaube ich dir. Du lagst ja auf mir wie tot. In gewisser Weise warst du der Tisch, unter den du mich zerren wolltest.« Wentz räusperte sich und begann zu erzählen. Er berichtete, dass er mich noch vor dem herabfallenden bronzenen Deckenleuchter habe warnen wollen, aber es sei zu spät gewesen. Der Leuchter habe mich am Kopf getroffen und sei dann scheppernd zu Boden gefallen.
Unwillkürlich betastete ich meinen Schädel und erfühlte am Hinterkopf eine gewaltige Beule. Sie also war der Grund für meine Schwindelanfälle.
Wentz erzählte weiter. Ihm selbst sei kein Haar gekrümmt worden, was er allein mir zu verdanken habe. Allerdings habe das tückische Beben zu einem Zeitpunkt, als die Aufräumarbeiten in vollem Gange waren, erneut eingesetzt. Mehrere Erdstöße hätten sein Haus vollends zum Einsturz gebracht und ihn, den Hausherrn, dieses Mal nicht verschont. Doch er habe insgesamt gesehen noch Glück gehabt, denn Eugenius Röist, dem betrunkenen Deklamierer, habe man ein Bein amputieren müssen. Ob er überleben werde, wisse nur Gott allein. Freimut Walth habe ein paar hässliche Quetschwunden und Einblutungen am Körper davongetragen, Gotthold Curtius mehrere Gliedmaßen verrenkt und Cordt von Bechstein ein paar Rippen gebrochen, überdies stecke ihm ein fünf Zoll langer Splitter im Oberschenkel. Der Wundbrandgefahr wegen müsse der Splitter beizeiten herausoperiert werden, sofern einer der vielbeschäftigten Wundärzte Zeit dazu fände. So habe jeder das Seine davongetragen, der eine mehr, der andere weniger, aber für drei unserer Bursarier sei jede Hilfe zu spät gekommen. Sie seien in den Trümmern seines Hauses gestorben. Er nannte die Namen, und ich schwieg betroffen. »Woher weißt du das alles?«, fragte ich schließlich.
Wentz lächelte schwach. »Mein lieber Lukas. Du scheinst nicht zu wissen, wie lange du ohnmächtig warst. Das Erdbeben liegt bereits zwei Tage zurück. Es hat Verwüstungen in vielen Quartieren der Stadt angerichtet. Die Erdstöße sollen so schlimm gewesen sein wie bei den großen Beben anno 1356 und 1444 , als halb Basel in Schutt und Asche lag. Gott gebe, dass es diesmal nicht so schlimm ist. Das ganze Ausmaß der Zerstörungen wird man wohl erst in ein paar Wochen kennen.«
»Bis dahin bist du sicher wieder gesund.« Mir lagen noch mindestens ein Dutzend Fragen auf der Zunge, aber Wentz würde die wenigsten davon beantworten können. Außerdem wollte ich ihn schonen. Ich musste mir selbst Klarheit verschaffen. »Gute Besserung, Johann«, sagte ich und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will mal nach den anderen sehen.«
»Tu das«, sagte er.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich deutlich kräftiger, was ich Schwester Edelgaard auch umgehend mitteilte, als sie an meinem Bett erschien. Sie schaute mich prüfend an, fühlte mir den Puls und entschied: »Ihr müsst liegen bleiben. Glaubt nicht, ich hätte nicht gesehen, wie Ihr gestern trotz meines Befehls, weiterzuschlafen, zum Herrn Professor hinübergewankt seid.«
»Aha.« Ich wollte sie fragen, warum sie meine Zuwiderhandlung nicht unterbunden habe, verkniff es mir aber. Mit der Frau war wirklich nicht gut Kirschen essen. Ich ließ ihre Pflegebemühungen, die im Wesentlichen in der Darreichung
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