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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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eines heißen, wie Hühnergalle schmeckenden Tranks bestanden, über mich ergehen und dankte innerlich dem Herrgott, als sie wenig später den Saal verließ. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass sie tatsächlich fort war, raffte ich meine Kleider zusammen und stahl mich hinaus. Im angrenzenden Wirtschaftsgebäude fand ich eine Kammer, in der ich mich unbemerkt ankleiden konnte. Ich war in diesem Augenblick froh, dass mir wegen der kostspieligen Examensfeier das Geld gefehlt hatte, mich als frischgebackener Magister standesgemäß einzukleiden. Denn das kuttenähnliche, schlichte Kapuzengewand, das für jeden Bursarier Vorschrift war, ließ sich viel schneller überstreifen als Hemd, Spitzenkragen, seidene Beinkleider, Wams, Mantel, Handschuhe und was sonst noch zur Ausstattung eines promovierten Herrn gehörte.
    Auf leisen Sohlen verließ ich das Spitalgelände und betrat die Straße. Ich war auf einiges gefasst, aber was ich erblickte, war ärger als alles, was ich jemals gesehen hatte. Der Barfüßerplatz, auf dem zuvor der Holzmarkt abgehalten worden war, lag da wie eingeäschert. Über weite Strecken stand kein Stein mehr auf dem anderen, Schutt und Trümmer bedeckten die Wege. Keine spielenden Kinder waren zu sehen, keine schwatzenden Mägde, keine fliegenden Händler. Aus dem einst fröhlichen, lebenssprühenden Basel war eine Totenstadt geworden. Nur ab und zu begegnete ich einer Gruppe Männer mit Schaufeln und Hacken, die unter ständigem Rufen nach Überlebenden in den Ruinen arbeitete. Vereinzelt streunten Hunde herum, auf der Suche nach etwas Fressbarem.
    Unten am Rhein kam ich zur Ulrichskirche und zum Münster. Ich hielt den Atem an. Das Dach des Kirchenschiffs war eingebrochen, als hätte eine riesige Faust es gespalten. Weiter ging ich und kam zu den Universitätsgebäuden. Auch sie hatten stark unter den Erdstößen gelitten. Ob unter diesen Umständen Lesungen gehalten werden konnten, schien mir kaum wahrscheinlich.
    Ich ging weiter, wie benommen von den düsteren Eindrücken. Plötzlich stolperte ich, und ein leises Fiepen drang an mein Ohr. Ich blickte nach unten. Zu meinen Füßen sah ich ein kleines schwarzes Knäuel. Ein Hundewelpe. Von Hunden verstand ich nicht viel und noch viel weniger von Hunderassen, aber trotz meiner geringen Kenntnis glaubte ich zu erkennen, dass es sich um einen Mischling handelte. Es war ein kleiner Rüde. Er schaute mich aus großen und – wie ich mir einbildete – vorwurfsvollen Augen an. Sein linkes Ohr war abgeknickt, was ihm einerseits einen unvollkommenen, andererseits einen verwegenen Ausdruck verlieh. Wie der Kleine vor meine Füße gelaufen war, konnte ich mir nicht erklären. Vielleicht hatte er den Kontakt zu seiner Mutter verloren. Ich ging drei Schritte – und blieb stehen. Das kleine Gesicht wollte mir nicht aus dem Sinn. Der Welpe würde sterben, wenn ich ihn seinem Schicksal überließ. Niemand würde sich um ihn kümmern.
    Andererseits war es nur ein Hund. Ich ging weiter und blieb wieder stehen. Dann kehrte ich um. Ich nahm den Kleinen auf. Er war so winzig, dass er bequem auf meine Handfläche passte. »Ich werde dich mitnehmen«, sagte ich zu ihm. »Vielleicht finde ich jemanden, der sich um dich kümmert.« Dann steckte ich ihn in die Tasche meiner Kutte.
    Ohne es recht zu merken, lenkte ich meine Schritte zum Kollegium, in dessen Mauern meine Burse lag. Zu meiner Verblüffung sah ich, dass sie kaum Schaden genommen hatte. Vor dem Eingangstor begegnete ich einem kleinen, drahtigen Burschen. Es war Fischel. Er führte sein Pferd am Zügel und wirkte lange nicht so aufgekratzt wie vor zwei Tagen. Aber das war angesichts der grausamen Ereignisse kein Wunder.
»Salve, amicus«,
sagte er.
    »Ich grüße dich auch, mein Freund«, antwortete ich. »Du scheinst einer der wenigen zu sein, denen das Beben nichts anhaben konnte.«
    »Dir, wie’s scheint, aber auch nicht. Obwohl du wie ein Fuchs in der Falle saßest.«
    »Du meinst, im Haus von Wentz?«
    »Das meine ich. Du hast unglaublichen Massel gehabt. Viele sind verletzt worden, auch der Professor. Wie man hört, hat es drei von unseren Bursariern sogar tödlich erwischt.«
    »Ich weiß, ich komme gerade aus dem Spital.«
    Fischel ging nicht darauf ein. Er fuhr fort: »Hunderte sind in ihren vier Wänden verschüttet oder getötet worden. Da haben Aaron und ich noch Glück gehabt.« Er tätschelte seinem Braunen den Hals. »Aber wir waren ja auch nicht drin in Wentz’ Falle, sondern

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