Der Medicus von Heidelberg
einmal gehört zu haben.
»Der Totenkärrner, Herr Doktor.«
»Ach ja.« Ich erinnerte mich an den Alten mit der Pestkappe. »Nun, euer Angebot ist wirklich großmütig, aber ich kann es nicht annehmen. Gott befohlen. Möge die Seuche euch weiter verschonen.«
Ich wollte mich abwenden, wurde aber erneut daran gehindert, denn Muhme Lenchen erwies sich als ebenso hartnäckig wie der Jüngling. »Was Ihr einkaufen wollt, habe ich vielleicht im Haus. Nicht dass ich mich ums Bezahlen drücken will, aber ich geb’s Euch gern.«
Ich wollte protestieren, doch die alte Frau ließ es nicht zu. Sie wohne nur ein paar Schritte weiter, sagte sie, südlich des Platzes, in der Hefengasse.
Ich gab auf. »In Gottes Namen, gehen wir.«
»Wir sind arm, aber am Essen haben wir nie gespart«, sagte Muhme Lenchen wenig später zu mir. Voller Stolz wies sie auf ihre Vorräte. Ich sah goldbraune Laibe von auf Vorrat gebackenem Brot, eingelegte Früchte, zwei Dutzend Eier, die, wie sie versicherte, noch gut seien, obwohl schon eine Woche alt, Schmalz als Brotaufstrich oder zum Braten – Butter sei dafür zu teuer –, ein Kistchen eingelagerte Äpfel und drei geräucherte Forellen.
»Das nehmt Ihr alles mit, Herr Doktor.«
»Und du?«, fragte ich. »Du und der Junge, ihr müsst doch auch von etwas leben?«
»Keine Sorge, Herr Doktor, viele Häuser in der Nachbarschaft stehen leer, aber die Vorratsräume sind voll. Gott hat sicher nichts dagegen, wenn wir uns daraus bedienen, bevor alles verdirbt. Außerdem sind Hinz und ich ja nur noch zu zweit.« Die Tränen begannen Muhme Lenchen wieder über die zerknitterten Wangen zu laufen, und Hinz nahm sie tröstend in den Arm.
»Ach ja«, sagte ich, »du hast deinen Mann verloren, das wollen wir bei alledem nicht vergessen. Mein herzliches Beileid.
Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt,
so heißt es bei Hiob. Sei gewiss, dort, wo dein Mann jetzt ist, geht es ihm besser, auch wenn es deinen Schmerz kaum lindern kann. Wo ist er überhaupt?«
»In der hinteren Kammer, Herr Doktor.« Muhme Lenchen schniefte und tupfte sich mit einem zerknüllten Tuch die Augen trocken. »Aber Ihr müsst nicht nach ihm sehen. Er ist ja schon seit dem Morgen tot.«
»Das mag sein.« Ich ging trotzdem zur hinteren Kammer und betrachtete den alten Lauritz. Er lag da, seelenlos wie eine Puppe. Wie bei allen Opfern war sein Gesicht von der Seuche gezeichnet. Die Pest meuchelte nicht nur, sie meuchelte grausam, so grausam, dass sie ihren Opfern selbst im Sterben nicht den Ausdruck des Friedens gönnte. Ich schlug das Kreuz und murmelte ein Gebet. Sonst blieb für mich nichts zu tun übrig.
Ich ging wieder nach vorn, wo Muhme Lenchen und Hinz auf mich warteten. »Du hattest recht, Gott hat deinen Mann zu sich gerufen. Die Pest hat ihre Macht über ihn verloren«, sagte ich zu der alten Frau.
»Danke, Herr Doktor, Eure Worte tun gut. Ihr … Ihr redet wie ein Priester.«
»Meine Worte können wenig genug ausrichten.«
»Gott segne Euch. Hinz wird die Vorräte in Euer Haus tragen.«
Ich machte keinen Versuch, ihr Angebot abzulehnen, sondern sagte: »Das ist sehr freundlich, Muhme Lenchen«, und zu Hinz, der sich einen Tragekorb auf den Rücken geschnallt hatte, sagte ich: »Gut, gehen wir.«
Als wir den Benediktsplatz überquerten, sahen wir mit Genugtuung, dass Kaltwey seine Zelte bereits abgebrochen hatte. Doch ich machte mir nichts vor. Ich wusste, dass Geschmeiß wie er und seinesgleichen immer wieder auftauchen würde. Auf Höhe der Michaeliskirche, die gleichzeitig Universitätskirche war, mussten wir unversehens haltmachen. Ein Karren blockierte den Weg. Er gehörte Eustach, der gerade einen Toten aus einem Hauseingang trug. Eustach wurde unterstützt von einem kräftigen rothaarigen Mann, in dem ich zu meiner Überraschung Meister Karl erkannte. Mit vereinten Kräften wuchteten sie die Leiche auf den Wagen, wo schon ein halbes Dutzend anderer Pestopfer lag. Als sie meiner gewahr wurden, erschrak Eustach sichtlich. »Doktor Silvanus? Seid Ihr etwa genesen?«, fragte er entgeistert.
»Ich bin nicht Doktor Silvanus«, antwortete ich.
»Aber … wer seid Ihr dann?« Der alte Kärrner schob die Pestkappe hoch und fuhr sich mit der Hand in die hervorquellenden weißen Haarbüschel – eine Bewegung, die bei ihm größte Erregung verriet.
»Du kennst mich«, sagte ich. »Du hast mich und meinen Hund gestern in der Pergamentergasse gesehen. Ich trage den
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